von KLAUS KELLE
BERLIN/MÜNCHEN – Die Zeit „zwischen den Jahren“ ist der beste Augenblick, abseits von aktuellen Schlagzeilen und der Politik ein paar persönliche Gedanken aufzuschreiben. Über die Jahre, als ich als Polizeireporter arbeitete.
Gestern Abend stieß ich fast zufällig auf zwei Kriminalfälle, die mich auch nach drei Jahrzehnten immer noch nicht loslassen. Es sind Fälle aus Berlin und München, in denen ich damals selbst recherchiert habe. Beide Tötungsdelikte fanden vor rund 30 Jahren statt, und beide schwirren auch heute noch immer wieder in meinem Kopf herum.
Im Jahr 1994 lebte ich noch in Berlin, war aber bereits im Begriff, mich beruflich nach Süddeutschland zu orientieren.
1995 zog ich ins Badische, zwei Jahre später nach Augsburg. Immer wieder war ich damals mit meiner Freundin und anderen Freunden und Kollegen in München unterwegs. Beruflich, weil die Stadt als Medienstandort mit hoher Promi-Dichte wichtig war, aber natürlich auch privat, um Freunde zu besuchen oder die exzellente Gastronomie zu genießen. Ein ganz normales, urbanes Journalistenleben eben.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine frühere Sekretärin „Ille“ und einige Freunde eine Überraschungsparty zu meinem Geburtstag im „Schwarzen Café“ an der Leopoldstraße organisierten. Nichts Großes, aber ein schöner Abend mit acht Personen. Irgendwo existiert noch ein Polaroid-Foto von uns allen, das diesen Abend festhält.
Das „Schwarze Café“ war damals ein Schickimicki-Laden. Wer dort verkehrte, gehörte entweder zur echten „Bussi-Bussi“-Gesellschaft oder zum halbseidenen Milieu dazu. Das war mir damals anfangs nicht klar, denn die Übergänge waren dort fließend.
Zu den Stammgästen, die hier Hof hielten, gehörten Männer wie Miroslav „Miro“ M. und Peter Zuch, Chefs der Delta-Autovermietung, die Luxuskarossen an Leute verliehen und nicht fragten, woher das Geld stammte, das sie ihnen zusteckten.
Doch im August 1994 war das schöne Leben vorbei – wortwörtlich
Miro M. wurde in seinem BMW aufgefunden – hingerichtet mit einem gezielten Schuss in den Kopf. Am 1. Dezember desselben Jahres traf es auch Peter Zuch. Eine Hinrichtung in Bogenhausen, eiskalt und präzise. Was mich als Reporter damals wie heute so umtreibt, war dabei eine unbekannte Zeugin: Eine Frau mit markantem osteuropäischem Akzent hatte vor der Tat telefonisch gewarnt, dass etwas Schlimmes passieren werde. Ich weiß heute nicht mehr sicher: Lief der Anruf bei der Polizei auf oder direkt in der Delta-Zentrale? Ich meine, es war letzteres…
Die Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren Goldgräberjahre, in denen Glücksritter Hochkonjunktur hatten – und leider auch Schwerkriminelle aus Osteuropa.
Ermittler, mit denen ich später ausführlich darüber sprach, waren sich nahezu sicher, dass es einen Zusammenhang zwischen den „Delta-Morden“ und der internationalen Autoschieber-Mafia gab. Doch weder die Anruferin noch die Mörder von Miroslav M. und Peter Zuch wurden bis heute gefunden.
Die Details aus den Ermittlungsakten und die Tatortfotos habe ich jedoch noch immer vor Augen. So etwas vergisst man niemals.
Ganz anders gelagert ist der Fall aus dem Berliner Bezirk Neukölln
Denn das war ein Fall, der selbst einem langgedienten Polizeireporter heute noch Schauer über den Rücken treibt. Ich spreche vom Mord an der damals 30-jährigen Annegret W., die in der Innstraße in Neukölln lebte. Zwei Kinder, Sozialhilfe. Am 18. September 1987 war sie mit ihrem zweijährigen Jungen allein zu Hause. Sie muss ihren Mörder selbst in die Wohnung gelassen haben; es gab keine Einbruchsspuren, man trank Bier zusammen. Als das andere Kind nach Hause kam, fand es das Grauen vor.
Die Mutter war mit einem Pullover stranguliert worden und lag auf dem Bett im Schlafzimmer.
Die Ärmel steckten tief in ihrem Rachen, ein Messer im Hals. Es müssen sich erschütternde Szenen abgespielt haben. Nachdem der Täter die Wohnung verlassen und das Kleinkind verschont hatte, zog der Zweijährige seiner toten Mutter das Messer aus dem Hals, ging in die Küche und wusch das Blut daran ab. Dann legte sich der kleine Junge neben seine tote Mutter ins Bett und wartete, bis sein sechsjähriger Bruder nach Hause kam und die beiden fand.
Ein Polizeisprecher, mit dem ich Jahre später über den Fall sprach, sagte mir, man sei sicher gewesen, den Täter schnell zu fassen, da der kleine Junge aussagte, er kenne den Täter. Doch er konnte ihn nicht benennen, und auch Gegenüberstellungen mit Bekannten und Nachbarn brachten kein Ergebnis.
Alles, was der Zweijährige immer wieder sagte, war:
„Onkel Degake hat Messer in Hals von Mama gemacht.“
33 Jahre später nahm die Polizei doch noch jemanden fest: einen 62-jährigen Mann aus der Nachbarschaft. Er soll Annegret W. aus niedrigen Beweggründen getötet haben. Sie hatten sich wohl über eine Kontaktanzeige kennengelernt. Bei dem Treffen soll die 30-Jährige Geld für Sex verlangt haben, woraufhin er ausrastete.
2019 wurde der mutmaßliche Mörder zunächst zur Höchststrafe verurteilt, doch nach nur 768 Tagen Haft ließ ihn das Landgericht im Rahmen einer Revision wieder frei.
Der Richter begründete dies so: „Wir standen vor der Aufgabe, einen nicht Vorbestraften für eine 33 Jahre zurückliegende Tat zu lebenslanger Haft zu verurteilen oder freizusprechen. Aber es gibt Zweifel.“
Der Mann läuft heute also wieder frei herum. Was aus dem damals zweijährigen Zeugen geworden ist, wissen wir nicht. Immerhin gab es eine nachträgliche Erklärung für den rätselhaften Begriff „Degake“. Die Staatsanwaltschaft vermutete, dass das Kind damit die auffälligen Tätowierungen des Mannes gemeint haben könnte: Er trug eine Krake und einen chinesischen Drachen auf den Unterarmen – eine kindliche Wortschöpfung aus Drache und Krake.
Ich werde beide Fälle bis an mein Lebensende nicht mehr aus dem Kopf bekommen, das ist sicher. Wer war bloß diese Frau, die damals kurz vor dem Mord in München versucht hatte, zu warnen?
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