Oberammergau: Ein ganzer Ort lebt die Passionsspiele – und Kilian ist mittendrin

Kilian spielt seine Rolle in Oberammergau mit großer Ernsthaftigkeit.

von MARTIN D. WIND

OBERAMMERGAU – Unvermittelt toben drei Jugendliche über die Bühne, sie spielen mit einem Turban. Das fröhliche Treiben durchbricht jäh die dramatische Klimax des bisherigen Geschehens des zweiten Teils der Passionsspiele in Oberammergau. Gerade erst hatten die Zuschauer noch dem quälenden Verhör Jesu vor Pilatus und der menschenunwürdigen Folter durch die römischen Soldaten zusehen müssen, und jetzt hüpfen diese Jungs da durch die Gassen von Jerusalem? Ist so viel Lebensfreude zu ertragen angesichts der Infamie eines Hohenpriesters Kajapahs und des Hohen Rates? Schafft man das noch, nachdem Petrus Jesus „ehe der Hahn kräht“ drei Mal verraten hat?

Es gehört zum Konzept des Spiels, dass die Zuschauer durch eine Achterbahn der Gefühle nahezu „geläutert“ werden sollen: Auf der einen Seite der triumphale Einzug Jesu und seiner Jünger in Jerusalem, dann die aggressive Auseinandersetzung mit der Priesterkaste, harmonisch das gemeinsame Mahl mit den Jüngern, in dem allerdings auch schon das Unheil aufdämmert, dann die machtopportunistischen Entscheidungen des Politikers Pontius Pilatus, des selbstherrlichen aber erpressbaren Büttels des römischen Kaisers.

Einer der drei Jungs, die so ausgelassen über die Bühne springen und sich gegenseitig einen Turban zuwerfen, ist Kilian. Kilian ist 13 Jahre alt, geht in Ettal aufs Gymnasium und „stand das erste Mal“ mit eineinhalb Jahren – also in der vorherigen Spielzeit – auf der Bühne. Damals allerdings noch auf dem Arm seiner Großmutter Rosi oder seiner Tante Inge mitten im Trubel des „Volkes“. Dieses Jahr ist alles anders. Kilian hat inzwischen eine Spielrolle. Er und seine zwei Spielgenossen stellen Kinder des Simon von Cyrene dar, eines Landwirts, der zufällig am Kreuzweg stand. Römische Soldaten zwangen ihn, das Kreuz zu tragen, als der Überlieferung nach Jesus wegen seines foltergeschwächten Körpers nicht mehr in der Lage war, es selbst auf der Schulter zu tragen.

Kilian steht mit seinem „Vater“ und seinen „Geschwistern“ im Trubel auf der „Via Dolorosa“ und beobachtet das Geschehen rund um den Kreuzweg Christi. Er befragt seinen Vater, was es mit dem turbulenten Volksauflauf auf sich habe. Im Nachgang wird er als einer der Darsteller aus dem Volk immer in der Nähe Jesu zu sehen sein, bis zu dessen Tod am Kreuz und der Kreuzesabnahme. Aber wie kommt es, dass ein 13jähriger in eine solche Rolle bei einer derart monumentalen Aufführung von immerhin insgesamt fünf Stunden Spieldauer, die nach zweieinhalb Stunden von einer dreistündigen Pause unterbrochen wird. Warum lässt ein Jugendlicher sich ab dem Aschermittwoch des Vorjahres vor der Premiere seine Haare wachsen – die erwachsenen Männer dürfen sich auch nicht mehr rasieren –lernt Rollentext und übt stundenlang das Schauspiel auf der Bühne?

Für Kilian sind das spürbar leicht zu beantwortende Fragen: Er ist in Oberammergau geboren, hat also das „Recht“, bei der Passion mitzuwirken und an der Umsetzung eines mehr als 400 Jahre alten Gelübdes mitzuwirken: 1633 während des Dreißigjährigen Krieges wurde die Pest nach Oberammergau eingeschleppt und forderte viele Opfer. Nachdem die Bürger gelobt hatten, alle zehn Jahre das Leiden Sterben und die Auferstehung Jesu schauspielernd darstellen zu wollen, so sie von nun an vor der Pest verschont blieben, soll der Überlieferung nach niemand mehr gestorben sein.

So scheint es nun eine ehrenvolle Tradition zu sein, sich an der Passion zu beteiligen, die in den Familien gepflegt wird. Von den rund 5000 Oberammergauer Bürgern sind immerhin rund 2500 in die Gestaltung des Passionsspiels eingebunden – als Darsteller, Musiker, Sänger, Bühnenbauer, Kostümschneider oder Maskenbildner und Organisatoren oder was auch immer an Aufgaben dieses Mamutprojektes anfällt. Die langen Haare nimmt Kilian gerne in Kauf: „Man kann sich so viel mehr in die Rolle hineinversetzen, weil man so ja auch ein ,Opfer‘ bringt. Man fühlt sich auch besser in seiner Rolle.“

Natürlich ist es auch eine Leidenschaft für die Schauspielerei, die ihn auf manches verzichten lässt. Seine musikalischen Ambitionen hat er erst mal hintenangestellt: Schlagzeugunterricht und –trainig fallen derzeit für ein Dreivierteljahr ebenso aus, wie Handballspielen und Chorsingen. Sein Jugendchor ist nahtlos in den „Volkschor“ der Passion eingegliedert worden. In Oberammergau hat man mit diesen fließenden Übergängen Routine. Nicht umsonst hat das Dorf den Ruf, überdurchschnittlich viele musische Begabungen zu entdecken, gute Musiker und Schauspieler hervorzubringen.

Im vergangenen halben Jahr verbrachte Kilian einen großen Teil seiner Tage im Passionstheater. Schon bevor er zum Spielen kam, musste er geschminkt und eingekleidet werden, um dann letztlich gut zwei bis drei weitere Stunden zu üben, den Anweisungen des Spielleiters Christina Stückl aufmerksam zu folgen und sie umzusetzen. Die Schule nimmt in der Regel auf solche Belastungen keine Rücksicht. In Oberammergau ist das inzwischen Alltag: Familien, die in die Passion involviert sind, sind telefonisch bis in den späten Abend nicht erreichbar. Und so wird das noch bis zum 2. Oktober der Fall sein, wenn dann die finale Aufführung stattfinden wird. Dann werden Kilian, seine Mutter (Orchester), sein Vater und Bruder (beide im Chor) endlich wieder ein „normales Familienleben“ führen können – wenn nicht, ja wenn nicht Christin Stückl, der Spielleiter in Oberammergau und Intendant des Münchner Volkstheaters, für seine Zwischenspiele wieder talentierte Jungschauspieler sucht und in Oberammergau findet.

Bildquelle:

  • Kilian_Passionsspiele_Oberammergau: martin d. wind

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