von KLAUS KELLE
BERLIN – Ich bin mit Torsten Heinrich im Prenzlauer Berg in Berlin verabredet, nur wenige Schritte entfernt von der Touristenattraktion namens „Mauerpark“. Torsten Heinrich, das vorab, ist Deutschlands bekanntester und wichtigster Militärblogger (290.000 Abonnenten auf seinem Hauptblog, 500.000 insgesamt), ein Historiker, den ich vor vielen Jahren in einer Kneipe zum Kennenlernen auf ein Bier erstmals getroffen habe.
Der Mann ist Historiker und versteht von Kriegen und den Gründen, warum sie geführt werden, mehr als jeder andere Mensch, den ich persönlich bisher kennengelernt habe.
Als ich hörte, dass er für ein paar Tage in Deutschland ist, um seine große Community zu pflegen, fragte ich spontan, ob er Zeit für ein, zwei weitere Biere mit mir hat. Und die hatte er. Dazu müssen Sie wissen, dass er schon lange in Panama lebt und in den nächsten Tagen wieder in sein zweites Zuhause fliegt.
Auf diesen Tisch hat er einen russischen Militärhelm gelegt, den er von der Ukraine-Hilfe e. V. geschenkt bekommen hat, für die er immer wieder Spendenaktionen macht. Den Helm hatten die Russen auf ihrem Stützpunkt in Balaklija (Region Charkiw) zurückgelassen, als sie von ukrainischen Einheiten aus dem Ort vertrieben wurden.
Als wir das Gespräch gerade beginnen wollen, schlendert ein junger Mann im weißen T-Shirt vorbei, bleibt abrupt stehen und spricht meinen Gast an: „Sind Sie Torsten Heinrich?“, und als der bejaht, schüttelt ihm der Unbekannte die Hand und bedankt sich für dessen tägliche Analysen des Kriegsverlaufes in der Ukraine. Er zieht sein Portemonnaie aus der Tasche, legt einen 20er auf den Tisch und ruft noch „Machen Sie weiter so!“, bevor er weitergeht.
Torsten Heinrich, Sie haben vom ersten Tag an, vom 24. Februar 2022, als die russischen Panzerkolonnen in die Ukraine vordrangen, berichtet. Jeden Tag. Was war die Motivation?
Ich wusste schon 2014, dass Putin mit der Annexion der Krim die Büchse der Pandora geöffnet hat. Wenn einer damit beginnt, Grenzen militärisch zu verschieben, dann war das nicht das letzte Mal. Meine Beobachtung des Konflikts ist aus eigenem fachlichen Interesse erfolgt, wie zuvor beispielsweise schon beim zweiten Bergkarabach-Krieg. Nur dass ich dieses Mal einen YouTube-Kanal dazu erstellt habe.
Also sind Sie in der Bewertung dieses Krieges selbst parteiisch?
Ich versuche, objektiv zu sein. Aber ich bin nicht neutral. Für mich ist die Ukraine erstmal ein Land wie jedes andere auch. Wenn ich von ukrainischen Kriegsverbrechen erfahre, dann benenne ich die auch. Ich betreibe auf meinem Kanal keine moralische Stimmungsmache. Aber Russlands Angriff auf die Ukraine ist eine verbrecherische Aggression. Daran besteht kein Zweifel.
Wie recherchieren Sie neben den öffentlich zugänglichen Medien-Quellen, was gerade passiert in der Ukraine?
Ich verfolge regelmäßig 60 bis 70 russische und ukrainische Kriegsblogger auf Telegram. Die sind alle irgendwie ein Stück weit zu gebrauchen, auch wenn ich natürlich weiß, dass es fast ausschließlich Propagandakanäle der jeweiligen Seiten sind, wie etwa „2 Majore“ oder „Rybar“, die Millionen Menschen erreichen. Die erfinden ihre Meldungen nicht komplett, aber sie betreiben eben Propaganda, die keine Quellenkritik erfordert. Wenn sie irgendwo eine positive Nachricht für ihre Seite lesen, dann nehmen sie das mit in ihre Berichterstattung auf. So einfach mache ich es mir nicht, sondern gleiche ab und bleibe, wenn ich etwas nicht genau weiß, auch im Ungefähren oder ordne die Wahrscheinlichkeit ein für mein Publikum.
Wie ist ein normaler Tagesablauf bei Ihnen?
Ich stehe um 4 Uhr auf und hole mir einen frischen Kaffee. Ich habe eine Zeitschaltuhr an meiner Kaffeemaschine. Ab 4:30 Uhr sitze ich am Rechner. Um 6 Uhr frühstücke ich mit meiner Frau und recherchiere dann weiter. Mittags nehme ich auf, weil es ja die Zeitverschiebung zwischen Panama und Deutschland gibt und ich mit meinem aktuellen Stück spätestens um 20 Uhr in Deutschland draußen sein will.
Unterlaufen Ihnen auch Fehler?
Ich bin sehr vorsichtig mit meinen Analysen. Die Zuschauer wollen natürlich am liebsten deutliche Aussagen, ja sogar positiv belogen werden. Aber dann sage ich lieber ‚ich glaube nicht‘ als ‚es wird so sein‘.
Im Herbst 2022 habe ich mal einen wirklichen Fehler gemacht. Durch zunehmende belegbare militärische Erfolge der ukrainischen Streitkräfte habe ich damals irgendwann gesagt, ich glaube nicht, dass die Russen den Krieg noch gewinnen können“. Das war euphorisch und falsch. Ich habe mich anschließend dafür mehrfach ausdrücklich bei meinen Zuschauern entschuldigt.
Wie bewerten Sie denn heute die aktuelle Situation in den umkämpften Gebieten in der Ukraine?
Wenn die Russen gut vorbereitet gewesen wären, wäre der Krieg erheblich anders verlaufen. Aber das waren sie nicht. Der FSB und SVR haben total versagt. Die russische Führung hat gedacht, die Ukrainer und der Westen würden nach der widerstandslosen Annexion der Krim auch dieses Mal schnell einknicken. Aber wie wir wissen, war und ist das nicht so. Die Russen sind mit eine hunderte Kilometer langen Fahrzeugkolonne in Feindesland einmarschiert, ohne die Flanken zu sichern. Die Logistik war katastrophal, die Korruption enorm. Vor Kriegsbeginn waren Medienberichte zu lesen, dass Soldaten Diesel verscherbelt hatten, um Wodka kaufen zu können. Prompt blieben viele Fahrzeuge mit Treibstoffmangel liegen. Die waren zu Beginn überhaupt nicht darauf eingestellt, dass sie wirklich kämpfen müssen.
Bei einer aufgeriebenen russischen Polizeieinheit fand man später Paradeuniformen, die offenbar getragen werden sollten, wenn Janukowytsch wieder den Präsidentenpalast in Kiew bezieht.
Also kann die Ukraine den Krieg noch gewinnen?
Sie kann es, aber sie wird es nicht.
Weil sie zu wenig Soldaten hat?
Nein, das ist nicht das Problem. Ich zitiere mal eine pro-russische Quelle, die nun wirklich unverdächtig ist. Der Blog „Rybar“ schreibt, dass die Ukrainer zahlenmäßig eine weitere Million Männer als Soldaten an die Front schicken könnte. Das Problem wäre dann aber, dass das Land im Inneren zusammenbricht. Die Wirtschaft hätte dann keine Arbeiter mehr, in den Bars und Restaurants in Kiew arbeiten auch viele Männer. Diese werden von Steuerzahlern dann zu Steuerempfängern, als Soldaten. Wenn die alle eingezogen würden und für die Bevölkerung erkennbar alles zusammenbricht, dann wäre das ein schwerer Schlag für die Moral.
Neben Soldaten und Waffen ist die Moral der Bevölkerung, ist der Wille weiterzukämpfen entscheidend. Übrigens auch unter den Soldaten. Jeder, der da an der Front kämpft, hat sich damit auseinandergesetzt, vielleicht zu sterben. Aber sie wollen wenigstens wissen, dass ihr möglicher Tod einen Sinn gehabt hat. Sie finden sich mit der Gefahr ab, aber nicht, wenn sie wüssten, dass ihr Tod sinnlos wäre.
Ein halbwegs funktionierendes Leben im Land, auch die Lieferung effektiver Waffen aus dem Westen würde den Ukrainern Hoffnung geben. Westliche Waffen in großer Zahl geben den Soldaten das Gefühl, eine echte Chance zu haben und hebt daher die Moral. Diese Lieferungen finden aber nicht statt.
Auch wenn Sie sich nicht festlegen können, welchen Ausgang des Krieges in der Ukraine halten Sie persönlich für wahrscheinlich?
Die Ukraine wird auf jeden Fall Territorium verlieren, die Krim und mindestens Teile der die vier Regionen im Osten. Aber die Ukraine kann immer noch erreichen, dass der große Rest ein souveränes Land bleibt. Doch dafür müssen sie die Russen militärisch stoppen. Die Amerikaner haben dafür viele Schlüssel in der Hand. Der Präsident könnte zum Beispiel Tomahawk-Marschflugkörper liefern. Das ist eine Waffe, die so kein anderes Land abgeben kann und die Ukraine befähigen könnte, russische Stützpunkte weit im Hinterland zu zerstören. Die Lieferung von Tomahawks würde die Situation in kurzer Zeit erheblich verändern. Eine Zerstörung von strategischer Industrie würde Russland zu dem Schluss führen, dass ein militärischer Sieg vielleicht noch möglich wäre, aber die Kosten nun zu hoch wären. Russland müsste dann verhandeln.
Was kann Europa tun?
Die Europäer müssen langsam mal begreifen, dass dies ein europäischer Krieg ist. Klar, die Amis liefern weiter Waffen gegen Bezahlung. Und übrigens: Europa wäre auch stark genug, die Ukraine entscheidend zu unterstützen. Aber die Europäer sind nicht fähig zu entscheiden.
Weil es viele Staaten sind, viele Demokratien, die im Innern politische Gegner haben, die ihre Machtsüppchen kochen, indem sie zum Beispiel beginnen, Ukraine-Hilfen gegen soziale Missstände in den eigenen Staaten aufzurechnen und so die Gesellschaften im Innern zu spalten.
Bildquelle:
- Kelle_Heinrich: thegermanz