Angriff auf Ukraine Tag 20: NATO versetzt Hunderttausende Soldaten in erhöhte Alambereitschaft

Eine Frau flieht mit zwei Babys aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Foto: Vadim Ghirda/AP/dpa

KIEW – Drei EU-Regierungschefs sind inmitten des russischen Angriffskriegs in der Ukraine zu einem Besuch in die umkämpfte Hauptstadt Kiew aufgebrochen.

Beide Seiten in dem Konflikt berichten von militärischen Erfolgen. Gleichzeitig wird aber weiter über eine Friedenslösung verhandelt. Mehrere Hunderttausend Soldaten aus den Nato-Bündnisstaaten sind indessen in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden. Die Entwicklungen im Überblick.

Solidaritätsbesuch im Kriegsgebiet

Ein Zug mit den Ministerpräsidenten von Polen, Tschechien und Slowenien überquerte nach polnischen Angaben von Dienstagvormittag bereits die Grenze zur Ukraine. In Kiew sind Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Regierungschef Denys Schmyhal geplant.

Die Entscheidung für die Visite sei schon beim EU-Gipfel vergangene Woche gefallen, sagte der polnische Regierungssprecher Piotr Müller. Die Delegation vertrete «de facto die Europäische Union, den Europäischen Rat». In Kiew werde die Delegation ein Signal der Unterstützung für den Freiheitskampf der Ukraine geben und ein Paket mit konkreter Unterstützung für die Ukraine vorlegen.

Auf die Frage, warum die EU-Spitze nicht selbst nach Kiew fahre, entgegnete Müller: «Dies ist eine schwierige Frage, aber es ist eine Frage der individuellen Entscheidungen jedes europäischen Spitzenpolitikers.» Experten hätten die Sicherheitslage gründlich analysiert und seien zu dem Schluss gekommen, dass «dieser Besuch einfach stattfinden muss».

Verhandlungen zwischen Ukraine und Russland fortgesetzt

Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über ein Ende des Kriegs sind nach Angaben aus Kiew weitergegangen. «Sie wurden bereits fortgesetzt», sagte der ukrainische Delegationsleiter David Arachamija der Zeitung «Ukrajinska Prawda». Weitere Angaben machte er nicht. Von russischer Seite gab es dafür zunächst keine Bestätigung.

Beide Seiten hatten sich gestern per Videoschalte zu ihrer vierten Verhandlungsrunde getroffen. Am Nachmittag hatte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak dann mitgeteilt, die Gespräche seien bis Dienstag für eine technische Pause unterbrochen worden.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte der Agentur Interfax zufolge, bei den Verhandlungen gehe es darum, einen militärisch neutralen Status des Nachbarlandes zu sichern, «im Rahmen von Sicherheitsgarantien für alle Teilnehmer an diesem Prozess, im Rahmen der Entmilitarisierung der Ukraine». Russland will eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine verhindern und fordert deshalb die «Entmilitarisierung» des Landes, das sich zudem in seiner Verfassung für neutral erklären soll.

Die Ukraine fordert ein Ende des Krieges und einen Abzug der russischen Truppen. Moskau verlangt, dass Kiew die annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisches Territorium sowie die ostukrainischen Separatistengebiete als unabhängige Staaten anerkennt.

Selenskyj: Verstehen, dass wir nicht zur Nato gehören werden

Präsident Selenskyj hat eine Nato-Beitrittsperspektive seines Landes als unwahrscheinlich eingeräumt. «Es ist klar, dass die Ukraine kein Nato-Mitglied ist, wir verstehen das», sagte Selenskyj während eines Online-Auftritts vor Vertretern der nordeuropäischen Militär-Kooperation Joint Expeditionary Force. «Jahrelang haben wir von offenen Türen gehört, aber jetzt haben wir auch gehört, dass wir dort nicht eintreten dürfen, und das müssen wir einsehen», fügte Selenskyj hinzu. «Ich bin froh, dass unser Volk beginnt, das zu verstehen, auf sich selbst zu zählen und auf unsere Partner, die uns helfen.»

Ukraine: Russische Angriffe abgewehrt

Die ukrainischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben an mehreren Fronten russische Angriffe abgewehrt. Nördlich von Kiew sei es russischen Kräften nicht gelungen, die Verteidigungsstellungen zu durchbrechen, teilte der ukrainische Generalstab mit. Auch die westlich der Hauptstadt gelegene Stadt Makariw hätten die Angreifer nicht einnehmen können.

In der Ostukraine seien ebenfalls Vorstöße zurückgeschlagen worden, etwa bei der Stadt Lyssytschansk. Der Feind habe Verluste erlitten und sich zurückgezogen. Hingegen versuchten die Angreifer, sich in der nahe gelegenen Stadt Rubischne im Donbass festzusetzen. Die eingeschlossene südostukrainische Hafenstadt Mariupol werde beständig aus mehreren Richtungen mit Artillerie und Kampfflugzeugen angegriffen, hieß es.

Der Generalstab warf den russischen Einheiten vor, verstärkt Wohngebiete und kritische Infrastruktur zu beschießen.

200 Autos sollen Mariupol verlassen haben

Aus Mariupol haben sich nach Behördenangaben Menschen in etwa 2000 Autos in Sicherheit gebracht. Die Fahrzeuge folgten der Route in die westlich gelegene Stadt Berdjansk und dann weiter in die zentralukrainische Großstadt Saporischschja, teilte der Stadtrat von Mariupol in seinem Telegram-Kanal mit. Weitere 2000 Autos warteten am Stadtrand. Wie viele Menschen mit den Fahrzeugen die Stadt am Asowschen Meer verlassen konnten, ist noch unklar.

Ob ein Konvoi mit Dutzenden Tonnen Hilfsgütern und leeren Bussen für eine Evakuierung Mariupol erreicht hat, ist ebenfalls unklar. In der Vergangenheit waren mehrere Evakuierungsversuche gescheitert.

Insgesamt seien neun «humanitäre Korridore» eingerichtet worden. Die Schwerpunkte liegen nordöstlich der Hauptstadt Kiew sowie in den nordostukrainischen Gebieten Sumy und Charkiw. Nach Angaben der UN-Organisation für Migration (IOM) sind mehr als drei Millionen Menschen seit Kriegsbeginn aus der Ukraine geflohen.

Tote bei Angriff auf Schule bei Mykolajiw

Bei einem russischen Angriff nahe der südukrainischen Großstadt Mykolajiw sind nach ukrainischen Angaben mindestens sieben Menschen getötet worden. Drei Menschen seien bei der Attacke auf eine Schule im Dorf Selenyj Haj verletzt worden, teilte der örtliche Zivilschutz mit. Der Angriff ereignete sich demnach bereits am Sonntagmorgen. Die ersten Aufräumarbeiten seien nun abgeschlossen, hieß es.

Kiew: Drei Journalisten in Ukraine getötet

Unter den zivilen Opfern des Krieges sind auch drei Journalisten. Außer dem US-Journalisten Brent Renaud seien auch zwei ukrainische Reporter durch russischen Beschuss ums Leben gekommen, schrieb die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Ljudmyla Denisowa, bei Telegram. Wiktor Dudar sei in der Nähe der südukrainischen Großstadt Mykolajiw getötet worden, der Kameramann Jewhen Sakun durch einen Raketenangriff in Kiew. Darüber hinaus seien mehr als 30 Journalisten verletzt worden.

«Die russischen Besatzer kämpfen gegen eine objektive Berichterstattung ihrer Kriegsverbrechen in der Ukraine, sie töten und beschießen Journalisten», behauptete Denisowa. Auch auf ausländische Reporter sei gezielt gefeuert worden. Dabei seien mehrere Journalisten verletzt worden, darunter ein Schweizer und zwei Dänen. Eine Crew des britischen Senders Sky News hatte selbst gefilmt, wie sie in Butscha nordwestlich von Kiew beschossen wurde. Dabei wurde Reporter Stuart Ramsay verletzt.

UN dokumentieren Tod von 691 Zivilisten

Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat seit dem Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar den Tod von 691 Zivilpersonen in der Ukraine dokumentiert. Unter ihnen sind 48 Kinder und Jugendliche, wie das Büro in Genf mitteilte. Am Vortag waren es noch insgesamt 636 Tote. Dem Büro lagen zudem verifizierte Informationen über 1143 Verletzte vor. Am Vortag waren es 1125.

Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, betont stets, dass die tatsächlichen Zahlen mit Sicherheit deutlich höher liegen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bräuchten oft Tage, um Opferzahlen zu überprüfen. Das Hochkommissariat gibt nur Todes- und Verletztenzahlen bekannt, die es selbst unabhängig überprüft hat.

Nato-Soldaten in erhöhter Alarmbereitschaft

In Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine sind nach Angaben von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg mittlerweile mehrere Hunderttausend Soldaten aus den Bündnisstaaten in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden. Wie der Norweger am Dienstag in Brüssel mitteilte, sind darunter rund 100.000 US-Soldaten in Europa und rund 40.000 Soldaten unter direktem Nato-Kommando. Unterstützt würden die Truppen von Luft- und Seestreitkräften sowie von der Luftabwehr, sagte Stoltenberg.

Bildquelle:

  • Flucht aus Kiew: dpa

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