von MARTIN EBERTS
Das erste offizielle Lehrschreiben von Papst Leo XIV. behandelt ein zentrales Thema der Christenheit: gelebte Nächstenliebe und Zuwendung zu den Armen. Es hat die Form einer „Apostolischen Exhortation“ (quasi eine Art päpstlicher Weckruf), ist also weniger eine gelehrte theologische Abhandlung, als ein Aufruf an das ganze „Gottesvolk“, an alle Gläubigen weltweit. Es dient in erster Linie der Schärfung des Bewusstseins für ein zentrales Problem nicht nur unserer Zeit, sondern der Menschheit insgesamt.
Öffentlich vorgestellt wurde das Schreiben in Rom am 9. Oktober. Unterschrieben hat es der Papst jedoch schon am 4. Oktober, dem Tag des Heiligen Franziskus von Assisi, und das ist nicht nur ein sinnreiches Zeichen kirchlicher Tradition über die Jahrhunderte, sondern auch eine freundliche Reverenz gegenüber seinem Amtsvorgänger Papst Franziskus, der sich schon mit der Wahl seines Papstnamens in die Tradition jenes großen Heiligen mit dem Beinamen „Poverello“ (kleiner Armer) gestellt hatte und auf dessen Vorarbeit dieser Text im Wesentlichen gründet. Und in der Tat spricht aus diesem Dokument noch einmal Papst Franziskus in dem ihm eigenen Stil zu uns, präzisiert und ergänzt durch Leo XIV.
Franziskus’ Vermächtnis
Der Name des Lehrschreibens, „Dilexi te“ knüpft absichtlich und beinahe überdeutlich an die letzte Enzyklika von Papst Franziskus an: „Dilexit nos“.
In beiden Fällen sind es Zitate aus dem Neuen Testament, die von der göttlichen Liebe sprechen. Beide Dokumente gehören im Grunde genommen zusammen: Während die Enzyklika der Liebe Christi gewidmet ist, handelt das jetzt vorgelegte Lehrschreiben von der Liebe, die wir als Gläubige den Armen und Notleidenden erweisen. Darin wird in einem grandiosen, wirklich beeindruckenden Rückblick durch die Kirchengeschichte belegt, dass es nicht um die Erfindung von etwas Neuem geht, sondern um die notwendige Besinnung auf den Kern der christlichen Botschaft.
Angefangen mit dem Neuen Testament, über die Kirchenväter, zahlreiche Ordensgründer bis hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil und zu Mutter Teresa: der rote Faden ist immer das Eintreten für die Armen, für Kranke, für Opfer von Gewalt, Sklaverei, Menschenhandel. Es bleibt jedoch nicht bei der Aufzählung von Not und Leid; auch praktische Möglichkeiten der Abhilfe werden grundlegend thematisiert, vom klassischen Almosengeben über soziale Partizipation bis zur Bildungsförderung, wobei immer die Würde jedes einzelnen Menschen an erster Stelle zu stehen habe.
Christliches Alleinstellungsmerkmal
Die Kirche hat sich immer, als erste und oft einzige Kraft in der Gesellschaft, um Arme gekümmert, um Witwen und Waisen, um die Schwächsten und Hilflosen. Die gelebte Nächstenliebe (Caritas) ist ein klassisches Alleinstellungsmerkmal des Christentums. Die Kirche steht, getreu der Weisung und dem Vorbild ihres Herren, immer auf der Seite der Armen und Schwachen, tritt ein für Gerechtigkeit und gegen Willkür und Ausbeutung, aber auch gegen jeden Materialismus. Gläubigen Christen sind die mahnenden Worte Jesu im Gedächtnis, dass man „nicht Gott und dem Mammon“ (Mt 6, 24) dienen kann, eine Schriftstelle, auf die Papst Leo am 4. Oktober 2025 gegenüber den Pilgern auf dem Petersplatz ausdrücklich Bezug nahm. Kirche ohne Caritas – das kann es nicht geben, und das hat es nie gegeben.
Lateinamerikanische Akzente
An manchen Stellen scheint eine spezifisch lateinamerikanische Sicht durch, was bei Papst Franziskus nicht überraschend ist, und wofür Leo XIV. aus ebenso naheliegenden Gründen viel Verständnis hat. So bezieht sich das Dokument zum Beispiel ausdrücklich auf die Beschlüsse der Bischofskonferenzen von Medellín, Puebla, Santo Domingo und Aparecida, offenbar in einer der vielen noch wörtlich von Papst Franziskus verfassten Passagen.
Gegenüber der vorangegangenen, die Jahrhunderte übergreifenden Gesamtschau gelebter Nächstenliebe, von den Aposteln über Augustinus bis zum Vatikanum II., kann man nicht umhin, hier eine gewisse Fallhöhe zu konstatieren. Bei aller regionalen und auch gesamtkirchlichen Bedeutung der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen kommt diesen doch nicht ein wirklich vergleichbarer Rang zu. Einige Formulierungen könnten, aus dem Zusammenhang gerissen, sogar an die Tradition der sog. „Theologie der Befreiung“ erinnern (natürlich ohne die häretischen, marxistisch beeinflussten Elemente). Dazu gehört die bekannte Rede Franziskus’ von einer „Wirtschaft die tötet“ und verschiedene Formulierungen, in denen von „struktureller“ Ungerechtigkeit und den Grenzen der Marktkräfte die Rede ist. Aus dem Gesamtzusammenhang des Lehrschreibens geht andererseits deutlich hervor, dass sich jede sozialistische Vereinnahmung dieser Passagen von selbst verbietet; denn die Wertung des rechten und gerechten Wirtschaftens, insbesondere die Betonung der sozialen Funktion des Eigentums, gründet im Konzilsdokument „Gaudium et spes“.
Katholische Soziallehre…
So wie sein Vorgänger setzte auch Papst Leo XIV. mit der Wahl seines Namens ein deutliches Zeichen und knüpft programmatisch an jenen großen Papst des 19. Jahrhunderts an, mit dessen Namen (Leo XIII.) die Entstehung der „katholischen Soziallehre“ untrennbar verknüpft ist. Dessen Enzyklika „Rerum Novarum“ von 1891 war das erste in einer langen Reihe päpstlicher Lehrschreiben zur sozialen Frage, bis in die jüngste Vergangenheit, die alle direkt oder indirekt an diese erste große Sozial-Enzyklika anknüpften. Insofern wird es Papst Leo leicht gefallen sein, das Werk seines Vorgängers in diesem Dokument fast nahtlos fortzusetzen.
Auch die der katholischen Soziallehre gewidmete Passage des Textes beeindruckt durch die Vielzahl von Bezügen. Vor den Augen des Lesers entsteht, bei aller Knappheit der Formulierungen, ein Panorama weitsichtiger, teilweise prophetisch anmutender Analysen und Schlussfolgerungen mehrerer Päpste zum Thema Arbeit und Soziales. Es zeigt sich rückblickend, dass das kirchliche Lehramt in der Beurteilung gesellschaftlicher Entwicklungen oft besseres Urteilsvermögen und größere Weitsicht hatte, als manch eine wirtschaftswissenschaftliche Abhandlung. Unter den genannten Sozial-Enzykliken hebt der Papst jene von Benedikt XVI. („Caritas in veritate“) in gewisser Weise besonders hervor, indem er sie als „deutlich politischer“ als ihre Vorgänger qualifiziert, was den „vielfältigen Krisen“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts geschuldet sei.
…und ein leidenschaftlicher Appell
„Dilexi te“ ist aber keineswegs einfach ein weiteres Element in einer langen Reihe von Texten zur kirchlichen Soziallehre. Es ist vielmehr ein flammender Appell an alle Gläubigen, ein leidenschaftlicher Weckruf gegen Lauheit und Gleichgültigkeit. Die persönliche Betroffenheit und das pastorale Engagement sind quasi mit Händen zu greifen: Das Leid der Armen und Kranken, der im Menschenhandel Versklavten, der Verfolgten und Ausgebeuteten ist auch heute noch übergroß. Wer das mit einem Schulterzucken abtut, weil ja die Kirche immer so reden muss, auf den wartet in diesem Text eine Überraschung.
Die Argumentation folgt eben nicht dem üblichen Duktus umfassender Sozial-Enzykliken. Die eigentliche Kernaussage ist zutiefst persönlich: In den Armen und Kranken, den Leidenden und Ausgebeuteten begegnet uns Christus! Die Armen und Leidenden sind nicht nur Empfänger unserer Zuwendung, sei es im geistigen oder im materiellen Sinne. Die Begegnung mit ihnen eröffnet uns vielmehr die Chance zu einer Begegnung mit Christus. Das hat schon etwas Mystisches und ist doch zugleich „down to earth“. Ein großartiger Gedanke, und der ist keine Erfindung von Franziskus oder Leo. Sie haben das vielmehr von ihrem Chef, denn das ist O-Ton Jesus Christus: „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.“
Mit gut 25 Textseiten ist „Dilexi te“ zwar kürzer als eine Enzyklika, aber natürlich immer noch keine Blitz-Lektüre. Es lohnt sich aber trotzdem, sie einmal anzulesen. Wer wissen will, was die Kirche in unserer Zeit an erster Stelle zu sagen hat – nicht nur den gläubigen Katholiken – der kann es hier finden. Leo XIV. hat mit der Herausgabe und Überarbeitung ein echtes Kunststück vollbracht.
Bildquelle:
- Papst_Leo_XIV: screenshot X