„…das Potential zu extremen Verwerfungen des globalen Finanzsystems“ – Chinas Immobilienriese Evergrande vor der Pleite

Evergrande-Zentrale in Shenzen

von DIETRICH KANTEL

BERLIN – Mit geschätzt 30 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt ist die Baubranche der wichtigste Pfeiler der Wirtschaft der Volksrepublik China. In diese Branche ist EVERGRANDE der zweitgrößter Immobilienentwickler unter den fünf chinesischen Bauriesen. Doch EVERGRANDE ist noch mehr. Über kaum durchschaubare Verschachtelungen ist das Unternehmenskonglomerat zudem in der E-Auto-Fabrikation tätig, betreibt Themenparks, mischt in der Nahrungsmittelindustrie mit und im Gesundheitsmanagement. Der chinesische Fußball-Rekordmeister FC Guanghou gehört mehrheitlich dem Unternehmen. Laut Capital zählen 248 Tochterunternehmen zum Konzern. Analysten zufolge droht dem Giganten seit Monaten der Kollaps: Erst 1996 gegründet ist er heute mit über 300 Milliarden Dollar verschuldet. Zuletzt ließ man Zahlungfristen für Zinsen auf US-Dollar-Anleihen verstreichen und zahlte erst verspätet. Mit der Bezahlung für Grunderwerb von der Stadt Changchun ist man mit 28 Millionen Dollar in Verzug. Einem Bericht von „Deutsche Welle“ werden im kommenden Jahr rund 7,5 Milliarden Dollar für Anleihen fällig. Der geplante Verkauf der Konzerntochter Property Services Group, mit dem 5 Milliarden Dollar Liquidität beschafft werden sollten, ist bisehr nicht zustande gekommen.

Undurchschaubare Verschachtelungen

Die Ratingagentur Fitch meldete, dass man einen Zahlungsausfall irgendeiner Art als wahrscheinlich annehme. Einem weiteren Bericht der „Deutsche Welle“ zufolge sei für Anleihe-Investoren ein Schuldenschnitt in Höhe von 75 Prozent zu erwarten. Eine genaue Bewertung des Zustands des Konzerns wird offensichtlich durch die undurchschaubaren Verschachtelungen erschwert. So sei man bei der Suche nach Käufern von Fahrzeugen der E-Auto-Tochter nicht fündig geworden, so ein Bericht von CNN: Bisher sei nämlich noch gar kein E-Auto produziert worden. Und der gemeldete Umsatz dieser Tochter sei zu 99 Prozent branchenfremd, nämlich im Gesundheitsmanagement erwirtschaftet worden.

Dramatische Zuspitzung: Kommt die finanzielle Kernschmelze?

Die Situation scheint sich aktuell dramatisch zuzuspitzen, mit möglicherweise unkalkulierbaren Folgen für die Gesamtwirtschaft der Volksrepublik. Während Analysten sich also noch nicht ganz einig sind, ob ein Bankrott eventuell nur „wahrscheinlich“ ist, sieht der Berliner Marktbeobachter Deutsche Marktscreening Agentur (DMSA) in Berlin den Bankrott als de fakto schon eingetreten. In einer am 25.10.2021 veröffentlichten Studie hat ein Bankrott von EVERGRANDE „das Potential zu extremen Verwerfungen des globalen Finanzsystems“ mit Pleiten von Akteuren, die bis heute noch als grundsolide gelten. „Ausgelöst durch einen chinesischen Finanz-Virus namens EVERGRANDE kann der Welt ein „Great Reset“ bevorstehen – die finale Kernschmelze des derzeitigen globalen Finanzsystems“, so DMSA-Studienautor Dr. Marco Metzler. Schlußfolgerte die DMSA daraus in einer Verlautbarung am vergangenen Montag noch, dass Internationale Investoren 22,5 Milliarden US-Dollar abschreiben müssten, präzisierte die Agentur in einer weiteren Presseerklärung vom heutigen 29. Oktober dramatisch: „Evergrande ist technisch pleite und zwingt damit HBSC und andere internationale Banken bis zu 197 Milliarden US-Dollar abzuschreiben. Unter den 10 größten betroffenen institutionellen Anlegern befindet sich der Studie zufolge auch die deutsche Allianz. Heute ende die Schonfrist für überfällige Zinsen in Höhe von 47,5 Millionen US-Dollar auf eine Off-Shore-Anleihe. Bis zum bereits erfolgten Geschäftschluß der Hongkonger Banken ist über einen Zahlungseingang allerdings nichts bekannt geworden und EVERGRANDE hat eine solche Zahlung auch nicht bestätigt.

China: Weisheit und List …

Und weiter noch: Im September und Oktober seien drei Couponzahlungsrunden von Chinas zweitgrößtem Immobilienentwickler mir einem Volumen von 280 Millionen US-Dollar bis heute nicht bedient worden. Weitere Couponzahlungverpflichtungen würden nun noch zum 1. November und zum 28.Dezember fällig mit weiteren 58 Millionen US-Dollar. Studienleiter Metzler heute weiter: „Angesichts solcher Volumina und der geringen Bonität vieler chinesischer Immobilieentwickler ist damit zu rechnen, dass Zins und Tilgung der internationalen Anleihen von chinesischen Immobilien-Entwicklern fast komplett ausfallen. Zumal es kaum Möglichkeiten gibt, die Schulden in China einzutreiben“. Der Konkursfall EVERGRANDE sei umso komplizierter, als der Sitz der Holding-Gesellschaft auf den Cayman Inseln sei, das Vermögen jedoch in China. Aktuell bewertet die DMSA mit Metzler einen Totalausfall für alle Investoren als sehr wahrscheinlich. Dabei wird auf ebenfalls neue Bewertungen durch Fitch verwiesen. Dort geht man davon aus, dass bei einem Bankrott von EVERGRANDE von einem Rückfluss von lediglich null bis zehn Prozent des von Bondinvestoren international eingesetzten Kapitals zu rechnen sei.

Wie oder ob sich die chinesische Regierung in der drohenden Finanzkrise engagieren wird, ist, wie alles in China: Schwer durchschaubar. Hierbei gilt es eine sprachkulturelle Besonderheit Chinas nicht zu vernachlässigen: Das chinesische Schriftzeichen für „Weisheit“ und dasjenige für „List“ ist ein und dasselbe. Das hat unausweichlich Einfluss auf das Denken und Handeln in Staat und Gesellschaft.

Bildquelle:

  • Evergrande_2: afp

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