Die Schande von Wiesbaden und einer ganzen Saison – wie man einen Fußballverein kaputt macht

Liebe Leserinnen und Leser,

der 22. Dezember 1978 war mein erstes Mal. Ich weiß das noch genau, niemand vergisst sein erstes Mal.

Ein paar Tage vorher hatten mich Klassenkameraden aus der Realschule Lage gefragt, ob ich nicht mal mit zu einem Spiel von Arminia Bielefeld kommen möchte, und ich sagte zu. 22. Dezember 1978, unvergessen. Der nur dürftig mit Beton bedeckte Hügel gegenüber dem legendären Block 3. Der Fußballclub Arminia lag damals am Boden nach dem Bundesligaskandal, nach den Spielmanipulationen, nach gekauften Punkten und Toren und dem folgenden Zwangsabstieg.

Die kleine, gebeutelte Arminia, in ihrer Existenz bedroht. Wer geht zu so einem Verein überhaupt noch hin?

Ich.

Und ich habe mich verliebt an diesem Abend. In diesen Club. 18.500 leidenschaftliche Zuschauer waren auf der „Alm“ dabei, in diesem engen Hexenkessel, diesem englischen Fußballstadion mitten in der Stadt. Viele Jahre später, wieder ein Pokalspiel, wieder 0:4 gegen Wolfsburg schrieben selbst internationale Zeitungen von der „Anfield Road in Ostwestfalen“ und dieser einzigartigen Atmosphäre.

In der 64. Minute meines ersten Arminia-Spiels überhaupt – wieder DFB-Pokal – führten die hochfavorisierten Lauterer mit 0:1, und Bielefelds Trainer wechselte einen neuen Stürmer ein. Volker Graul hieß der Mann, wurde eine Minute nach seiner ersten Einwechslung überhaupt im schwarz-weiß-blauen Arminia-Trikot angespielt und haute den Ball direkt ins gegnerische Tor. Und zum ersten Mal erlebte ich die Hysterie, zu der man Westfalen im Allgemeinen, aber Ostwestfalen im Besonderen überhaupt nicht für fähig hält. „Alm-Roar“ nannten die Zeitungen das damals.

Ich bin wirklich ein leidenschaftlicher Fan dieses Vereins seit fast 50 Jahren, dieses Underdogs. Dieses Clubs, der niemals Deutscher Meister werden oder in einem internationalen Wettbewerb spielen wird. Doch das interessiert in Ostwestfalen niemanden. Die Einstellung muss stimmen. Arminia kann zu Hause 0:4 verlieren gegen einen übermächtigen Gegner, und die Fans feiern ihre Mannschaft dennoch, wenn sie eine anständige Arbeit abliefern. Wenn sie kämpfen, grätschen, schwitzen. Dann recken wir zu Tausenden die Fäuste in den Abendhimmel und brüllen rhythmisch „Niemand erobert den Teutoburger Wald!“ als Reminiszenz an den Feldherrn Arminius, der es den Römern in der Varusschlacht einst mal ordentlich besorgt hat.

Und dann diese Saison, vor einem Jahr aus der 1. Bundesliga abgestiegen, wo wir uns mit den großen Bayern, Dortmund und Leipzig messen durften. Dann der Abstieg, nicht zum ersten Mal, Mundabwischen, weiter. Kein Beinbruch, wir sind Arminen. Ich habe fünf Kinder, alle besitzen ein Trikot der Arminia, alle fahren so oft es geht gern mit zur Alm. Obwohl keines von ihnen je in Ostwestfalen gelebt hat, haben sie inzwischen ihre eigenen Geschichten, haben unsere Selbstironie und die Leidenschaft von ihrem Alten aufgesogen, leben sie.

Aber diese Saison war anders als alle 48, die ich miterlebt, miterlitten habe. Immer stand eine Mannschaft auf dem Platz, die sich behaupten wollte, zerreißen, gewinnen. In dieser Saison nicht. Gleich mehrere unfähige Trainer engagiert, eine seelenlose hochbezahlte Söldnertruppe zusammengekauft, von denen außer vielleicht zwei Spielern nicht ein einziger Zweitliganiveau erreichte. Und nun steigen sie ab – in einem Jahr von der ersten in die Dritte Liga. Absolut zu recht.

Und die Krone des Ganzen setzten Arminia-Hooligans am Abend in Wiesbaden dem 0:4-Desaster im ersten Relegationsspiel noch auf. Pyrotechnik, Spielabbruch, eine Polizeihundertschaft rückt ins Stadion ein – was für dumme Arschlöcher tragen bloß das gleiche Trikot wie ich und wie meine Kinder?

Als vorhin unser langjähriger Stürmer Fabian Klos erfolglos versuchte, den kompletten Spielabbruch vor der Gästetribüne zu verhindern und die Randalierer zu beruhigen, drehte er sich irgendwann frustriert um und ging weg. Und er weinte. So wie ich weine an diesem Abend der Schande…

Ihr Klaus Kelle

Unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende

Jetzt spenden (per PayPal)

Jetzt abonnieren

Über den Autor

Klaus Kelle
Klaus Kelle, Jahrgang 1959, gehört laut Focus-online zu den „meinungsstärksten Konservativen in Deutschland“. Der gelernte Journalist ist jedoch kein Freund von Schubladen, sieht sich in manchen Themen eher als in der Wolle gefärbten Liberalen, dem vor allem die Unantastbarkeit der freien Meinungsäußerung und ein Zurückdrängen des Staates aus dem Alltag der Deutschen am Herzen liegt. Kelle absolvierte seine Ausbildung zum Redakteur beim „Westfalen-Blatt“ in Bielefeld. Seine inzwischen 30-jährige Karriere führte ihn zu Stationen wie den Medienhäusern Gruner & Jahr, Holtzbrinck, Schibsted (Norwegen) und Axel Springer. Seit 2007 arbeitet er als Medienunternehmer und Publizist und schreibt Beiträge für vielgelesene Zeitungen und Internet-Blogs.