Ein Zustand, der zum Himmel schreit: Alte Menschen in der Corona-Isloation

von PETER JOECKEN

Wenn ich früh morgens meinen Kaffee trinke, denke ich oft an meine Oma . Sie hat mir als Kind in den Ferien immer einen extra dünnen Kaffee gekocht. So hat es angefangen. Mit dem Kaffee, aber auch mit dem Leben.

Meine Oma lebt lange schon nicht mehr. Aber die Erinnerung an sie ist noch da. Was sie wohl heute denken würde, wäre sie so wie damals, die letzten Monate ihres Lebens im Altenheim? Immer, wenn ich diesen Gedankengang habe, wird mir die fast schon hintergründig und latent gewordene Brutalität unserer Situation und unserer Gesellschaft bewusst. Und das tut richtig weh.

Von den alten Menschen spricht niemand mehr. Sie sind ja schließlich alle geimpft. Man sieht es, wie unsere „Erfolgspolitiker“ mit Stolz verkünden, an den sinkenden Todeszahlen. In den Einrichtungen der Altenhilfe sind inzwischen fast alle Menschen geimpft oder getestet worden. Bewohner, Mitarbeiter, Ehrenamtliche, Besucher. Also könnte man denken, dass dort eine, heute sagt man es ja so, „Blase“ der Sicherheit vorherrscht. Dass wenigstens dort sich das Leben wieder in eine Art natürlichen Alltags zurück gependelt hat. Und dass die Menschen wieder aus ihrer Isolation, unter der sie über ein Jahr einsam leiden, einsam leben, einsam sterben mussten, nun endlich beendet ist. Falsch gedacht.

Es ist nach wie vor so, dass die Altenheime abgeriegelt sind wie Festungen. Dass die „Sicherheitsvorkehrungen“ immer noch die Isolation im Vordergrund sehen. Isolation und Einsamkeit töten. Sie töten weiter. Am Rande. Unbemerkt von der Gesellschaft. Ich bin erschüttert und wütend zugleich.

Die Menschen dürfen selbst in den Heimen untereinander kaum oder keine Kontakte pflegen. Die Restaurants sind und bleiben nach wie vor geschlossen. Essen in Einzelhaft. Keine Gemeinschaftsaktionen, keine Gesellschaftsspiele, keine kurzweiligen Konzerte. Im Zimmer sitzen. Stumm vor sich hin starren. ARD und ZDF läuft. Aber das mit dem Verstehen von dem, was Merkel und Co. da immer sagen und was auf der Welt los ist, das klappt nicht mehr. Besuch kommt auch nicht.

Warum soll ich mich dann noch an mein Leben klammern? Warum überhaupt ankleiden, mich pflegen oder Wert darauf legen, wie ich aussehe heute? Es ist ein Zustand, der zum Himmel schreit. Viele unserer alten Menschen verwahrlosen. Sie lassen sich hängen. Sie weinen. Sie sehnen sich nach ihren Lieben. Sie fühlen sich einsam. Sie verkümmern sozial. Es ist unglaublich, dass niemand sich wirklich dazu berufen fühlt, etwas daran zu ändern.

Man kann über die Reinfektion von vormals Infizierten und die Rate von Infektionen bei Geimpften sagen was man will, aber vielleicht sollte man sich an dieser Stelle doch noch einmal die ethischen Aspekte des politischen Handelns vor Augen führen. Und alleine das ist schon eine ethisch-moralische Bankrotterklärung, wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen auch während dieser Zeiten.

Ältere Mitbürger und Mitbürgerinnen haben nicht mehr viele Jahre vor sich, gerade wenn sie im Heim leben – und hier sollen randständige Risikobetrachtungen den Ausschlag dafür geben, dass sie nicht miteinander Mittag essen können? Dass sie sich nicht treffen können? Dass sie Besuch, wenn überhaupt, nur nach Anmeldung und streng limitiert empfangen „dürfen“? Gibt es eine schlimmere Entmündigung und Missachtung sozialer Ansprüche von Menschen, die auf unsere Hilfe an gewiesen sind? Denen wir Dank schulden?

Über alle seuchenpolizeilichen Überlegungen hinweg wäre doch ein kurzes Zurücktreten mehr als angesagt. Jüngere Menschen – natürlich auch geplagt durch Infektion, Erkrankung und evtl. (in noch nicht bekanntem Umfang) Spätfolgen – können in ihrem Leben noch vieles wieder aufholen, aber Ältere? Hier geht es um die letzten Monate, um die letzten Jahre.

Hat Deutschland den moralisch-ethischen Kompass völlig verloren?

Ist Menschlichkeit keine Option mehr in diesem Land?

Bildquelle:

  • Pflegefall_Alter: dpa

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