Im Land der kostenlos Mutigen: Sie tun es nur für sich selbst

Stadio-Banner mit Protest gegen die WM in Katar.

von JULIAN MARIUS PLUTZ

BERLIN – In der heutigen Zeit leben wir von Symbolen. Ob eine Ukrainefahne, die man sich ganz gratis in das Twitter-Profil stellt, oder eine Regenbogenfahne, die für Diversität stehen soll, wenn es um die WM in Katar geht. Oder ein Band-Shirt einer unmaßgeblichen Metalband, die plötzlich ihre Liebe zur Ukraine gefunden hat. Doch bei beiden Ereignissen, der Krieg und die WM, liegt der Ursprung viel früher. Die WM in Katar wurde durch einen dubiosen Stimmenkauf bereits 2009 möglich gemacht. Aufschrei damals? Vergebens.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine begann spätestens 2014, als die Krim völkerrechtswidrig annektiert wurde. Damals waren Solidaritätsbekundungen rar, kaum sichtbar und wenig im Alltag erlebbar. Band-Shirts, die “Stand with Ukraine” beflockt wurden, gab es nicht. Damals hätte aus einem kostenlosen Mut ein wahrhaftes, ehrliches Risiko für die Sache werden können. Doch man wollte es nicht, schlicht, weil es nicht interessant war.

Heute hat die WM in Katar begonnen. Unter dem Twitter-Hashtag #BoykottKatar2022 versammeln sich viele, die sich plötzlich solidarisch verhalten. Ein Beispiel: “Für mich steht ja fest, dass ich die Fußball-WM nicht schauen werde. Schon alleine deshalb, weil ich Fußball nicht mag. ARD und ZDF haben sich aber die Übertragungsrechte gesichert. Kosten: Insgesamt 214 Mio. Euro. “Ich will das nicht finanzieren.“ #BoykottKatar2022”, schreibt ein Nutzer.

Im Strom der Ewigguten

Was für ein schweres Los. Die Person mag noch nicht mal Fußball und verzichtet dennoch auf die Weltmeisterschaft. Vor so viel Courage muss man schon den Hut ziehen. Das sind die kostenlosen Krieger für einen Boykott, der sie gar nicht betrifft. Und wenn ich Ihnen noch sage, dass der Nutzer eine Ukraine-Fahne im Namen hat, wissen Sie Bescheid, worum es geht.

Verstehen Sie mich richtig: Der Angriffskrieg gegen die Ukraine muss geächtet und bekämpft werden. Und ich finde auch, dass es gute Gründe gibt, die Weltmeisterschaft 2022 in Katar nicht anzuschauen. Weshalb jedoch die Leute ausgerechnet jetzt ihren Kampfeswillen gegen Despoten finden, bleibt mir ein Rätsel, außer der, dass sie mit dem Strom der Ewigguten schwimmen wollen.

Verkümmerter, selbstgerechter Protest

Nikolas Taleb beschrieb das Phänomen in seinem Buch „skin in the game“. Nur der, so der Mathematiker, der Verantwortung für sein Handeln trägt, kann moralisch Wertigkeit Entscheidungen treffen. Unser Denken, unser Sein, soll das Ergebnis einer grundsätzlichen Überlegung sein, wie wir miteinander umgehen wollen. Die Gratismutigen dagegen schaffen sich selbst ein paralleles Universum, in dem sie sicher sind, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen.

Sie riskieren nichts. Eine Ukraineflagge neben einer Regenbogenfahne im Twitterprofil, ein Bandshirt in Blau-gelb gilt als Ausdruck eines im Kern degenerierten, verkümmerten und selbstgerechten Protestes. Doch wer nicht im Stande ist, etwas zu riskieren, mit einem Argument vielleicht auch einmal daneben zu legen und ganz alleine dazustehen, wird sich nie in die Lage versetzen, ein moralisch gutes Leben zu führen.

Sie tun es für ihr Gewissen

Im Versuch, sich selbst einen Individualismus aufzuzwingen, verkrampfen sie und finden sich im woken Wohlfühl-Kollektivismus. Wer ausschert, gehört leider nicht mehr dazu. Und manche Tragödien geschehen zur falschen Zeit, in den falschen Ländern, die auch noch von den falschen Präsidenten geführt werden. Vor wenigen Tagen wurden sechs Menschen in Istanbul bei einem Anschlag getötet. Die Solidaritätsbekundungen bewegen sich in homöopathischen Dosen. Den Opfern in der türkischen Metropole fehlte es am Timing. Schade. Die Anforderungen für die synodal anmutenden Beileidsbekundungen definierten die Pastoren aus Wokistan. In Abwandlung eines Mannes mit ähnlicher Geisteshaltung, wie die linksgrünen Blockwärter: „Wer Opfer ist und wer nicht, bestimme immer noch ich.“

Fernab von Regenbogen- und Ukraine-Fahnen, von Boykottaufrufen wenige Tage vor dem Eröffnungsspiel findet die Realität statt. Sie ist im Hier und Jetzt. Bomben fallen in Europa. Homosexuelle und Frauen werden in Katar strukturell diskriminiert. Die kostenlos Mutigen tun ihre Gratisbekundungen für sich. Für ihr Gewissen. Doch sie wissen genau: Damit wird keine einzige Seele gerettet.

Bildquelle:

  • Banner_Boycott_Quatar: imago

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