Mein Gorbatschow: Wie der böse russische Bär vorübergehend zum Schmuse-Koala wurde

ARCHIV - Michail Gorbatschow war am Dienstagabend nach langer schwerer Krankheit im Alter von 91 Jahren in Moskau gestorben. Foto: Marcus Brandt/dpa

von THILO SCHNEIDER

MOSKAU – Es ist auch im eigenen Leben immer eine kleine Zäsur, wenn große Staatsmänner, die man kannte und bewunderte, aus dem Leben scheiden. So geht es mir im Falle von Michail Gorbatschow. Wieder einer, der Dir damals täglich in den Nachrichten begegnete, dessen Handeln ich mit einer Mischung aus Misstrauen und Bewunderung verfolgte, der in meinen 20ern und 30ern absolut präsent, da andauernd in den Nachrichten war.

Die deutsche Sicht auf den Mann vom Lande, der in einem 3.000-Seelen-Kaff in der Region Stawropol geboren wurde und sich durch die Institutionen bis hin zum „Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ arbeitete, ist naturgemäß eine andere als die der glasnostharten Sowjetrussen, die ihn bis heute als Totengräber der Sowjetunion be- und verachten. Ohne Gorbatschow kein Jelzin – und auch kein Putin.

Dies soll hier keine Betrachtung über das Lebenswerk des Genossen Gorbatschow werden, keine feinsinnige Analyse seiner Handlungen und seiner Motivationen, sondern eine persönliche Rückschau. Über den Werdegang Gorbatschows berichten ja nicht nur Wikipedia, sondern jede Menge Bücher von und über ihn. Ich persönlich stieß durch Michail Gorbatschow erstmals auf die gleichnamige Wodka-Marke und auf diese auch nur aufgrund eines Witzes in der damals noch brennend guten „Titanic“: „Wer je einen Wodka soff, der kennt den Namen Gorbatschow“. Fand ich damals grandios, finde ich immer noch klasse. Wohlgemerkt: Ich kannte wegen Gorbatschow die Wodka-Marke – nicht umgekehrt!

Als Leonid Breschnew 1982 vor das Ewige Zentralkomitee trat, habe ich als 16-Jähriger klammheimliche Freude empfunden. Dieses nach Luft schnappende Fossil, dieser Betonkopf, der den „Prager Frühling“ zu verantworten hatte und Honecker und Konsorten die Hand vor den Hintern hielt, empfand ich nicht als großen Verlust für die Menschheit. Es konnte also, was die Führung des Feindes im Kalten Krieg betraf, nur besser werden. Wurde es nicht. Es folgten in kurzer Reihenfolge der steinalte Geheimdienstler und kalte Krieger Juri Andropov, der ebenfalls innerhalb von zwei Jahren vom Großen Generalsekretär abberufen wurde, auf ihn folgte der noch steinältere Konstantin Tschernenko, der noch betonköpfiger, sturer und verbissener war und auch innerhalb von 12 Monaten durch seinen Tod des Amtes enthoben wurde.

Danach hatte es das Zentralkomitee wohl satt, andauernd wegen Todesfällen zusammenkommen zu müssen und sie wählten einen Mann, der nicht innerhalb der nächsten Monate aufgrund von Altersschwäche abtreten würde – eben Michail Gorbatschow. Von dem ich bereits wenige Monate nach Amtsantritt den Eindruck hatte, er könne so etwas wie ein russischer Kennedy werden (umso bestürzender übrigens, dass es auch unsere Verbündeten, die USA, geschafft haben, Quartalsirren die Atomcodes in die Hand zu drücken. Gibt es da weder bei den Reps noch den Democrats fähige junge Kandidaten zwischen 40 und 60? Müssen es da solche Figuren wie Trump und Biden sein? Demokratie sorgt auch nicht immer für eine Bestenauslese.)

Gorbatschow öffnete die Fenster und die frische Luft von „Glasnost“ und „Perestroika“ wehte zum Entsetzen der Mitgenossen im „Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Russlands“ durch das Haus Sowjetunion. Die kleineren Potentaten in den russischen Teilstaaten witterten Morgenluft, bei den im wahrsten Wortsinn steinalten Verbündeten von Berlin-Ost bis Bukarest begannen die Nerven blank zu liegen. Ausgerechnet der böse Bär Russland schickte sich an, zum demokratischen Schmuse-Koala zu werden.

Ich besuchte 1985 Moskau im Rahmen einer Studienreise. Gorbatschow war erst wenige Monate im Amt und trotzdem war sein Wirken, wenigstens in der Hauptstadt, schon zu spüren – es gab endlos lange Schlangen vor den Spirituosenläden, die nur um die Mittagszeit Alkohol verkaufen durften. Dafür aber herrschte in den Gesprächen mit unseren russischen Betreuern eine erstaunliche Offenheit über den Zustand der Roten Armee, von der angeblich überhaupt nur 25 Prozent einsatzfähig sei, weil der Rest „blau wie eine russische Öltankerbesatzung“ wäre. Diese Offenheit war für uns von der Ära Breschnew geprägte Jugend Westdeutschlands überraschend und erstaunlich. Insgesamt wehte durch Moskau mit seiner freundlichen Bevölkerung tatsächlich so etwas wie ein „Wind of Change“ und die Hoffnung, dass es nun unter Gorbatschow demokratischer, freier und kapitalistischer werden würde.

1989 wanderte ich tatsächlich für meine damalige Firma in die DDR – nach Rostock – aus, wenngleich mich die Bundesrepublik ja einige Monate später einholte. Als jedoch im Sommer 1991 zeitgleich zur Meldung über den Putschversuch in Russland, russische Panzer durch Rostock rollten (wahrscheinlich fuhren sie einfach in die Kasernen oder zum Verladen an den Bahnhof), wurde mir schlagartig klar, dass ich mich ohne Gorbatschow, mit einem neuen alten Betonkopf an der russischen Spitze und einer Widererrichtung der DDR, diesmal auf der falschen Seite der Mauer befinden könnte und war drauf und dran, Richtung Lübeck zu flüchten, solange es da nicht wieder Sperrzäune und Lobotomierte mit Maschinenpistolen gibt.

Gott sei Dank kletterte Jelzin in Moskau auf einen Panzer und der Putsch war ebenso schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Auch, wenn dies auch das rapide politische Ende von Michail Gorbatschow bedeutete. Eine Woche später waren nicht nur er, sondern auch die komplette KPdSU nur noch eine Bemerkung in den Geschichtsbüchern. Glasnost und Perestroika hatten den Kalten Krieg ebenso wenig überlebt wie die Sowjetunion. Es folgten Raubtierkapitalismus, einer Art Anarchie, eine Zeit, in der Russland zwar nicht als Gegner, aber auch nicht als strategischer Partner begriffen wurde und das Zeitalter der weltweiten Dummen begann, von denen Putin leider der Intelligenteste war. Und möglicherweise immer noch ist.

Ich verdanke Michail Gorbatschow meine positive Weltsicht, dass es immer irgendwann und irgendwie noch intelligente Staatslenker geben wird, die wirklich den Frieden und ihr Volk in Wohlstand und Freiheit führen wollen. So lange „Gorbi“ an der Macht war, würden es jedenfalls nicht die Russen sein, die die Knöpfe für die Atomraketen drücken. Der Tatsache, dass es Gorbatschow letztlich nicht gelang, im eigenen Land die Verheißungen von Freiheit und Wohlstand durch Handel und Wandel und Demokratie zu realisieren, liegt in der Tragik dieses Politikers, der so vielen Völkern die Freiheit brachte und damit und dadurch ausgerechnet Wladimir Putin letztlich den Weg ebnete. Ein ganz Großer ist von uns gegangen. Schade.

(Weitere Elogen des Autors unter www.politticker.de)

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

Bildquelle:

  • Michail Gorbatschow tot: dpa

Unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende

Jetzt spenden (per PayPal)

Jetzt abonnieren