von CHRISTIANE FLECHTNER
LISSABON – Schon von Weitem sind sie zu hören – die Wellen, die sich immer und immer wieder an der Steilküste brechen. Ich schmecke die salzige Luft, spüre die Kraft des Meeres und die Möwen, die auf dem auflandigen Wind zu schweben scheinen. Und dann bin ich endlich in Sichtweite der Küste. Wind und Wasser haben in Tausenden von Jahren ein wahres Kunstwerk geschaffen: Steile Monolithen, die aus dem Blau des Atlantiks ragen, und Klippen in beige, orange und hellrot
An der Algarve, der südlichsten Region Portugals, gibt es sie noch: die unberührte Natur, einsame Strände und wildromantische Küstenlandschaft. Und hinter der nächsten Ecke befindet sich ein weiterer Ausblick, der Staunen und Ehrfurcht erzeugt vor der Kraft und Schönheit der Welt. Mit mehr als 200 Kilometern Küstenlandschaft, einem bergigen Hinterland, Naturreservaten und Nationalparks sowie historischen Städten und kleinen Dörfern ist die Algarve ein perfektes Wanderziel.
Das bemerke ich schon am ersten Tag
Im kleinen Örtchen Barão de São João – rund zehn Kilometer von Lagos entfernt im Landesinneren: Am Kulturzentrum des Ortes bilden die bunten Wandershirts einen starken Kontrast zu den dunkelgrünen knorrigen Pinien. Wanderschuhe werden geschnürt und Wasserflaschen gefüllt. Die vielen Menschen nehmen am Walk & Art Fest teil, das einmal im Jahr veranstaltet wird und bei dem Wandern und Kunst im Mittelpunkt stehen.
Ich nehme an der Morgenwanderung teil und begebe mich mit 20 anderen Wanderern auf den Rundwanderweg „Pedra Do Galo“ – das heißt, wir wandern zum „Felsen des Hahns“. Der Wanderweg liegt an der Via Algarviana, die sich über 300 Kilometer durch die Algarve zieht. „Wir wandern heute durch einen sehr ursprünglichen Bereich“, erklärt Wanderführerin Joana Almeida. Hier wachsen viele Pflanzen und Bäume, die kaum Wasser brauchen. Dazu gehören Mandel- und Feigenbäume ebenso wie die Olive. Alte Kiefern gibt es ebenfalls.“ Dieses Gebiet sei so wichtig, weil es einen Gegensatz und eine Balance zu den von Menschen gestalteten Flächen bildet. „Hier gibt eine große Biodiversität an Pflanzen. Und wo viele unterschiedliche Pflanzen wachsen, gibt es auch viele Tiere“, sagt sie.
Start ist am Kulturzentrum von Barao de Sao Joao und führt nach Norden in Richtung des fünf Hektar großen Waldgebietes Mata Nacional de Barão de São João. Joana zeigt uns den wilden Spargel und den Erdbeerbaum, der gerade seine knallroten Früchte trägt und aus dem der bekannte Obstschnaps „Medronho“ hergestellt wird. Lavendel und violett blühendes Heidekraut, genannt Urze, überziehen den Boden. „Der Honig, den die Bienen hier aus dem Nektar des Heidekrauts zaubern, ist dunkel und lecker“, fügt sie hinzu.
Nach rund vier Kilometern sind wir beim Menhir angekommen, der am Wegesrand steht: Dieser besondere Stein aus dem neolithischen Erdzeitalter hat dem Weg seinen Namen gegeben – und sein Name „Felsen des Hahns“ stammt aus einer Legende. Es heißt, dass man von Barão de São João aus an dieser Stelle den Hahn krähen hörte. Alle genießen die Wanderung durch die besondere Landschaft und die Ausblicke. Die Portugiesin Volante Komao aus Lagos ist schon zum zweiten Mal beim „Walk & Art Fest“ dabei und ist begeistert: „So können Naturinteressierte ganz spezielle Gegenden kennenlernen, die sie allein nie aufgesucht hätten – so wie diese hier“, sagt sie.
Am Nachmittag schlendere ich durch die Altstadt von Lagos. Der Hafen war ab dem 15. Jahrhundert Ausgangspunkt zahlreicher Afrikaexpeditionen, und auf den portugiesischen Schiffen gelangten Sklaven aus Guinea und dem Senegal hierher. Ab 1444 befand sich ein Sklavenmarkt mitten in der Stadt, dessen Gebäude heute noch existiert. Erst 1820 wurde der Handel mit Menschen verboten. Ich laufe durch die verwinkelten Gassen, vorbei an Geschäften, Restaurants und Cafés, bis es dunkel wird.
Die hängenden Täler
Meine Augen können sich am nächsten Tag nicht sattsehen, als ich in Praia da Marinha das erste Mal die schroffe Küste erblicke: Keine Frage, die Felsformationen aus Kalkstein machen der berühmten Great Ocean Road in Australien Konkurrenz. Und ich stelle schnell fest: Der Name „Sieben hängende Täler“, auch „Percurso dos Sete Vales Suspensos“ genannt, beschreibt die rund sieben Kilometer lange Wanderroute durch die zerklüftete Kalksteinlandschaft sehr passend. Sie führt von einem der schönsten Strände Europa, dem Praia da Marinha im Osten, über sechs weitere Strände und den hohen Klippenabschnitten dazwischen bis nach Praia de Vale Centeanes im Westen.
An diesem Morgen haben mein Guide Paulo Palhota und ich diese grandiose Naturkulisse ganz für uns allein. Nur eine kleine getigerte Katze schleicht uns um die Beine. Es waren für diesen Tag Regen und Sturm angesagt, doch die Sonne taucht die Felsen in ein Farbenspiel in Rot, Gold und Orange.
Der Weg ist heute das Ziel, denn immer wieder lässt uns der Ausblick entlang der Steilküste staunen. Die Natur hat mehr als 20 Millionen Jahre dafür gebraucht, diese besondere Küstenlandschaft zu erschaffen. Kleine krüppelige Wacholderbüsche scheinen sich zu verneigen, so sehr sind sie vom Küstenwind gebeugt worden. Die kleinen roten Beeren des Mastixstrauchs, der auch wilde Pistazie genannt wird, leuchten im Sonnenlicht.
Reif für die Insel
Später am Tag holt uns Miguel mit seinem Wassertaxi in der kleinen Stadt Olhão ab und nimmt uns mit auf eine Fahrt durch ein einzigartiges Gebiet: Der Parque Natural da Ria Formosa besteht aus einem Labyrinth von Sumpfgebieten, Inselchen, Sandbänken und natürlichen Kanälen, das sich über eine Länge von 60 Kilometern an der Algarveküste erstreckt. Hier haben vor allem Vögel einen perfekten Lebensraum gefunden.
Miguel bringt uns nach Culatra, zur dritten von insgesamt fünf Eilanden. Das Meer ist an diesem Tag so ruhig, dass sich die Sonne darin spiegeln kann. Dort angekommen, springen wir im Hafen von Aldeia da Culatra von Bord und laufen durch die Gassen des kleinen Ortes. „Früher gab es weder Strom noch fließend Wasser auf der Insel“, erklärt mein Guide. „Es war ein sehr armes Gebiet. Doch vieles hat sich nun geändert, und Touristen erkunden nach und nach das kleine Eiland.
Am Ende des Örtchens führt ein hölzerner Steg über die Dünenlandschaft. Die Flut kommt – und langsam füllen sich die Priele mit Wasser. Wilder Thymian wächst hier, auch Mittagsblumen und die italienische Strohblume. Dann ist der wilde Strand an der Südseite der Insel erreicht. Hier türmen sich die Wellen auf, es tost das Meer, und die Gischt brodelt weiß. Schnell sind Wanderschuhe und Socken ausgezogen, und die Füße tauchen in das eisige Salzwasser. Kein Mensch ist zu sehen, nur der Strand und wir. Eins mit der Natur, die so wild ist und unbändig. Eins sein mit dem Wind, der durch die Haare weht. So genießen wir die Einsamkeit, die Leere, die Weite.
Die Füße hinterlassen tiefe Spuren im Sand – die jedoch mit der nächsten Welle schon wieder verschwunden sind. Rund eine Stunde wandern wir in Richtung Westen – den weißen Leuchtturm der Ortschaft Farol immer im Blick. „Farol – das heißt Leuchtturm“, erklärt Paulo. „Passt doch gut, oder?“ sagt er und lächelt. Als wir durch die Gassen gehen, ist die Sonne schon hinter den Häusern verschwunden. Was für ein toller Ort. Hier könnte ich bleiben.
Auf der Via Algarviana
Doch schon am nächsten Tag geht es weg von der Küste, hinein ins Hinterland in Richtung Osten. Dort, wo der Guardiana-Fluss die Grenze zu Spanien bildet, startet die Via Algarviana. Die erste Etappe beginnt in Alcoutim im Osten, und nach 13 weiteren Etappen und 300 gewanderten Kilometern erreichen die Weitwanderer schließlich das Ziel am Cabo de Sāo Vicente, dem südwestlichsten Punkt Portugals.
„Das Hinterland der Algarve ist ein echter Geheimtipp“, erklärt Paulo und führt mich durch das kleine Dörfchen Cortes Pereiras. „Wir starten die erste Etappe der Via Algarviana rückwärts; dann laufen wir mehr bergab und haben schon bald den Fluss vor Augen“, erklärt er. Hier im kleinen Bergdorf, fernab von den lauten Städten, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Und dann geht es auch schon los, immer den rot-braunen Holzschildern mit der Markierung „GR13“ folgend. Johannisbrotbäume wachsen hier und seit den 1970er Jahren auch Pinien. Weiter unten zieren Stein- und Korkeichen die Landschaft. Bei Letzteren wurden erst kürzlich die Rinden abgeschält, um den Kork zu ernten und zu verarbeiten.
Wir kosten die knallroten süßen Früchte des Erdbeerbaums und können gar nicht genug von ihnen bekommen. Dann ist auch schon bald ist der Guardiana-Fluss in Sicht. An seinem Ufer stehen zahlreiche Oliven- und Mandelbäume. Nach rund zehn Kilometern ist Alcoutim erreicht. Für die Wanderer ist es der Startpunkt, für mich das Ziel meiner Algarven-Erkundung.
Ich werfe einen Blick zurück auf den Weg, auf dem ich gekommen bin. Am liebsten würde ich nun wirklich loslaufen – die gesamten 14 Etappen. Denn schön war’s – und so abwechslungsreich. Und ich bin mir sicher: Ich komme wieder…
Walk & Art Fest 2025
Das nächste Walk & Art Fest findet vom 7. bis 9. November 2025 rund um das Kulturzentrum Barão de São João statt. Man muss sich für die über 100 Wanderungen und Programmpunkte im Vorfeld anmelden. Infos: www.walkartfest.pt/en
Weitere Infos: www.visitalgarve.pt/de/
www.visitportugal.com/de/destinos/algarve
Bildquelle:
- Algarve_PORT: christiane flechtner