Todeskessel Mariupol: Russland verlangt weiße Fahnen – Massengrab für 9000 Leichen entdeckt

Rauch steigt über dem Azovstal-Werk in der Hafenstadt Mariupol auf. Foto: Victor/Xinhua/dpa

MARIUPOL/MOSKAU – Das russische Militär will nach eigenen Angaben in Mariupol eine Feuerpause ausrufen und einen humanitären Korridor zum umkämpften Stahlwerk Azovstal schaffen – sollten sich die Ukrainer ergeben. Gleichzeitig lösen Aufnahmen eines mutmaßlichen Massengrabs Entsetzen aus.

Russland sei bereit, «jederzeit eine Waffenruhe zu verkünden», um Zivilisten aus der Fabrik zu lassen, aber auch Kämpfer, «wenn sie den Wunsch äußern, ihre Waffen niederzulegen», sagte Generaloberst Michail Misinzew vom russischen Verteidigungsministerium. Dazu müssten die Ukrainer im Stahlwerk weiße Flaggen hissen.

Misinzew widersprach damit der ukrainischen Vizeregierungschefin Iryna Werschtschuk, die den russischen Truppen vorgeworfen hatte, die Flucht von Zivilisten zu behindern. Seit 21. März habe es täglich Feuerpausen für Flüchtlinge gegeben, behauptete der russische Offizier. «Aus Mariupol konnten so 143.631 Zivilisten und 341 Ausländer evakuiert und 1844 ukrainische Wehrdienstleistende sicher herausgeholt werden, die sich ergeben haben.»

Massengrab mit Tausenden Zivilisten

In der Nähe von Mariupol deuten Satellitenbilder auf ein mögliches Massengrab hin. Der US-Satellitenfotodienst Maxar verbreitete Aufnahmen, die in dem Vorort Manhusch mehrere ausgehobene Grabstellen zeigen sollen. Örtliche Behörden sprechen davon, dass dort Tausende Zivilisten begraben sein sollen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuvor von Zehntausenden Toten in der wochenlang umkämpften Hafenstadt gesprochen.

Die ukrainischen Angaben waren von unabhängiger Seite nicht überprüfbar. Selenskyj hat sich zu dem mutmaßlichen Massengrab bisher nicht öffentlich geäußert. Die Informationen gehen auf den Stadtrat von Mariupol und von Bürgermeister Wadym Bojtschenko zurück, die in Bezug auf die Satellitenbilder von Gräbern für bis zu 9000 Leichen sprechen. Sie sind selbst aber nicht mehr an Ort und Stelle.

Das mutmaßliche Massengrab befindet sich am nordwestlichen Ortsrand, der knapp 20 Kilometer Luftlinie von Mariupol entfernt liegt. Satellitenfotos vom 3. April zeigen weit über 200 mögliche Grabstellen in mehreren Reihen, ausgehoben auf einer Länge von mehr als 300 Metern neben einer Straße. Die angeblichen Grabstellen sind auf den Aufnahmen als dunkle Flächen neben dem Aushub zu erkennen.

Auf Telegram schrieb der Stadtrat, die Leichen seien seinen Quellen zufolge in mehreren Lagen in das Massengrab geworfen worden. Der Großteil der Grabstellen entstand Satellitenaufnahmen zufolge ab dem 26. März. Die Gegend von Manhusch war schon in der Frühphase des Krieges unter russische Besatzung gefallen.

Nach einem Bericht der US-Zeitung «The New York Times» soll ein Massengrab parallel zum Straßenverlauf in der Nähe eines Friedhofs verlaufen. Die Zeitung analysierte die Aufnahmen nach eigenen Angaben selbt, es gebe dort etwa 300 ausgehobene Grabstellen. Sie sollen innerhalb von zwei Wochen zwischen März und April angelegt worden sein, wie ein Vergleich der Aufnahmedaten gezeigt habe.

Russisches Militär: Lage normalisiert sich

Derweil soll sich die Lage in Mariupol normalisiert haben. «Die Bewohner der Stadt haben die Möglichkeit bekommen, sich wieder frei auf der Straße zu bewegen», sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Freitag. Die Straßen würden von Trümmern und kaputter Militärtechnik geräumt, die Reste der ukrainischen Kämpfer und der «Söldner aus den USA und den europäischen Ländern» seien «zuverlässig» auf dem Gelände des Stahlwerks Azovstal eingeschlossen. Von unabhängiger Seite waren die Berichte nicht zu überprüfen.

London warnt vor hohen Verlusten bei Stahlwerk-Sturm

Unterdessen warnen britische Geheimdienstexperten, dass russische Truppen bei einem Sturm auf das umzingelte Stahlwerk Azovstal in Mariupol hohe Verluste zu erwarten hätten. Die Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, eine Blockade um das Stahlwerk zu errichten, weise auf den Wunsch hin, den ukrainischen Widerstand in Mariupol in Schach zu halten und russische Streitkräfte für den Einsatz in anderen Teilen der östlichen Ukraine verfügbar zu machen, heißt es im täglichen Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums.

Mariupol war kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges vor zwei Monaten eingekreist worden. Einzig in dem Azovstal-Werk harren noch mehrere Hundert ukrainische Soldaten aus. Bei ihnen sollen nach ukrainischen Angaben zudem noch etwa 1000 Zivilisten sein.

Putin hatte die Stadt am Donnerstagmorgen für erobert erklärt. Selenskyj widersprach in einer Videobotschaft: Die Stadt widersetze sich weiter Russland. «Trotz allem, was die Besetzer über sie sagen.»

Bildquelle:

  • Stahlwerk Azovstal: dpa

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