von MARTIN D. WIND
TÜBINGEN – Es ist falsch, so zu tun als sei das Modell Tübingen in der Seuchenbekämpfung der Freiheit letzter Schrei. Ja, es hört sich besser an als „harter Lockdown“. Ja, es ist sicher wohltuender als eine Ausgangssperre. Und, am Rande: Woher, wie und mit welcher rechtlichen Grundlage kommt Karl Lauterbach an Ortungsdaten aus Handy- und KFZ-Bewegungsprofilen? Boris Palmer, Tübingens Oberbürgermeister, hat auf Facebook das Scheitern seines Modellversuchs bekannt gegeben. Der krankt unter anderem an überzogenen obrigkeitlichen Vorstellungen von eigenverantwortlichem Verhalten: Wenn das „eigenverantwortliche Verhalten“ nicht den amtlichen Vorgaben entspricht, dann wird nachjustiert.
Das erfolgt in einer Manier, das es Gänsehaut erzeugt. Palmer selbst beschreibt sein System als „Problem – Lösung“: Er schildert ein vermeintliches Problem – beispielsweise das aneinander Vorbeigehen im Freien mit weniger als 1,5 Metern Abstand – und kommt dann mit seiner „Lösung“: Maskenpflicht auch im Freien. Dabei erklären uns Virologen, dass die Masken im Freien Blödsinn seien, weil Aerosole in Freier Wildbahn soweit verwirbelt werden, dass von ihnen keine Infektionsgefahr ausgehe.
Tübingen zeigt was geschieht, wenn man Menschen das vermeintliche Zuckerle „Freiheit“ vor die Nase hält: Aus dem Umland strömen Menschen in die Stadt. Zutritt allerdings nur nach einer „freiwilligen“ Schnelltestung und dann mit einem privilegierenden „Tagesticket“: Krankheit wird zum Selektionsmerkmal im Alltag. Das kann man nur gut finden, wenn man sich von den Weltuntergangsszenarien eines Lauterbach in Bann hat schlagen lassen. Dennoch kommen so viele Menschen nach Tübingen, dass Palmer händeringend Fernbleibeappelle ins Netz stellt und verbreitet. So ist das, wenn man Menschen, denen man Freiheit entzieht, an bestimmten Punkten gegen Wohlverhalten eine Freiheitssimulation verspricht: Dann stehen die draußen vor der Türe!
Weiter im Verbotsreigen, das als Freiheitsversprechen verkauft wurde: Klar, Alkohol ist – neben der ohne Eigenverantwortung und unkontrolliert genossenen „Macht“ – der Enthemmer Nr. 1. Daher kommt – logischerweise – das aus den USA wohlbekannte Alkoholverbot: In der Innenstadt darf keiner ausgeschenkt oder konsumiert werden. Nach 20 Uhr darf selbst mitgebrachtes Bier nicht konsumiert werden?! Bedeutet das, vor 20 Uhr dürfte in der Innenstadt trotz des Konsumverbots, mitgebrachtes Bier getrunken werden? Naja, auch das passt in den Reigen der in sich nicht konsistenten und nicht logischen Verordnungen und Anordnungen der Herrschaften und der Ausführungsgrundlagen für die Polizisten und Ordnungsamtsmitarbeiter, die dazu verpflichtet sind, diese Regelungen gegenüber den Bürgern durchzusetzen.
Offenbar wurde – wie das oft so ist, wenn überreguliert wird – mit den Freigangscheinen Schindluder getrieben. So ganz ist das aus den Ausführungen Palmers nicht ersichtlich. Ersichtlich hingegen wird sein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber Menschen: Tagestickets dürfen nur noch wenige ausstellen, die absolut zuverlässig sind. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie seien jemand, der bisher „Tagestickets“ ausgeben durfte. Sie haben nie Missbrauch mit diesen Tickets getrieben. Dennoch gehören sie nicht mehr zu den acht Auserwählten, die diese Tickets jetzt digital verscherbeln. Was hat Ihr Bürgermeister dann implizit über Sie öffentlich ausgesagt? Sehr schmeichelhaft, oder?
Am Schluss seines primitiven Problemlösungsschemas folgt das Finale furioso des Schönsaufens einer zutiefst von ihm vorangetriebenen, engmaschigen, obrigkeitlichen Überwachungsstaats-Allure. Da schreibt Palmer doch tatsächlich – bitte die grammatikalische Abweichung vom Fließtext entschuldigen – wortwörtlich Folgendes: >>Problem: Es wird so viel verboten und geregelt. Lösung: Eigenverantwortlich handeln, Risiken bedenken, andere nicht gefährden.<< Wie bitte soll man denn „eigenverantwortlich handeln“, wenn die Obrigkeit so agiert, als würde sie sich am liebsten demnächst noch den Gang zum WC zur Genehmigung vorlegen lassen wollen? Das, was hier als Problem beschrieben wird, kann so wie vorgeschlagen, nicht gelöst werden. Die Lösung besteht darin, die Probleme gar nicht erst zu produzieren. Wie dem auch sei: Ein „Freiheitsmodell“ ist Tübingen nur vor dem Hintergrund des von Angela Merkel angedrohten „totalen Schutdown“. Aber jetzt mal ehrlich: Ist ein Eis auf die Hand oder ein Bier in der Kneipe es wert, sich seine Freiheitsrechte bei der Obrigkeit abzuholen, um dann doch kaum mehr „Freiheit“ zugeteilt zu bekommen, als ein Käfighuhn? Machen Sie lieber einen ordentlichen Waldgang, kreieren Sie einen eigenen Eisbecher und genießen Sie ihr Bierchen und die Weinschorle auf dem Balkon oder der Terrasse. Bewahren Sie sich Ihre Würde!
Bildquelle:
- Boris_Palmer_Tübingen: ard tagesschau