Unsere Freiheit stirbt auch, weil wir zu wenige mündige Bürger und mutige Wissenschafter haben

Gastbeitrag von ULRIKE TREBESIUS

Wer hätte gedacht, dass ich einmal Guido Westerwelle schmerzlich vermissen würde? In einer Rede, die er vor ziemlich genau zehn Jahren hielt, hat er über die Freiheit gesprochen. Damals, am 13. Mai 2013, sagte er:

„Die Freiheitsbedrohung in Deutschland, die kommt nicht mit Gewalt und laut daher, sondern sie kommt leise daher. Sie kommt mit allerlei Begründungen daher. Mit oftmals auch gut gemeinten Begründungen. Zum Beispiel, wenn es um die Bürgerrechte geht. In Zeiten, wo wir alle Sorgen haben wegen Terrorgefahr und wo wir alle natürlich auch alles tun müssen für unsere Bürgerinnen und Bürger und dass sie unversehrt ein glückliches Leben führen können. In solchen Zeiten kommen dann Parteien her und Politiker und sagen, dass ist die Zeit, wo man wieder mal günstig Bürgerrechte, die uns sowieso immer ein wenig stören, scheibchenweise reduzieren kann.

Freiheit stirbt immer Zentimeterweise, hat einmal Karl Herrmann Flach formuliert, und Freiheit stirbt nicht durch Politiker, stirbt nicht dadurch, dass man Bürgerrechte und Freiheitsrechte von Politik wegen einschränken will, sondern dann wird es gefährlich für die Freiheit, wenn die Bürgerinnen und Bürger ihr eigenes Immunsystem vergessen, das sie wappnen muss gegen jede Freiheitsbedrohung. … Man kann mit dem Vorwand, man schaffe Sicherheit, jedes Bürgerrecht in Zweifel ziehen. Man kann mit dem Vorwand, die Sicherheit brauche das, jede gesetzliche Verschärfung beschließen.(…) Aber wir brauchen auch selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger, die sich den Satz nicht gefallen lassen, wer nichts zu verbergen hat, soll sich doch gefälligst nicht beklagen. Wir wollen ein Volk von selbstbewussten Staatsbürgern! Und nicht von Staatskunden, nicht von Untertanen!“

Vielen Bürgern unseres Landes scheint diese Freiheit kaum noch etwas wert zu sein. Seit mehr als einem Jahr ordnet sich ein Großteil der Menschen bereitwillig einem Lockdown unter, der mit immer neuen Androhungen und Panikmache untermalt wird. Vor einem Jahr saßen wir im ersten Lockdown, nicht wissend und ahnend, dass wir diesen zwölf Monate später als den ersten bezeichnen würden. Obwohl wir eigentlich noch im Wellenbrecher–Lockdown aus dem November stecken (der drei Wochen dauern sollte und Weihnachten mit einschloss), sollten wir nun eigentlich in den Oster-Lockdown wechseln. Genannt Oster-Ruhetage. Durch eine Entschuldigung der Kanzlerin wurde dies gecancelt. Nun diskutieren wir einen letzten Knallhart–Lockdown nach Ostern. Und niemand fragt, warum man einen Lockdown, der doch eine hochansteckende und tödliche Krankheit verhindern soll, einfach mal um ein paar Tage verschieben kann. Man müsste fragen, ob das Virus doch nicht so gefährlich ist. Oder die Maßnahmen sinnlos.

Doch das möchte ich an dieser Stelle nicht tun. Ich versuche zu begreifen, was mit uns Menschen los ist. Mit uns Bürgern. Die wir uns seit einem Jahr mit leichten Abwandlungen und Anpassungen in den Begrifflichkeiten Woche für Woche, Monat um Monat einsperren lassen. Zwar steigt die Unzufriedenheit der Menschen mit der Bundesregierung, die CDU befindet sich im freien Fall, jedoch eine starke Gegenbewegung, ob durch andere Parteien oder durch Kirchen, Gewerkschaften, Verbände: die findet einfach nicht statt. Ängstlich hockt die eine Hälfte der Menschen zu Hause und schimpft über diejenigen, die ihrem berechtigten Freiheitsdrang nachgeben.

Die Politik heizt den Streit noch an, in dem sie Demonstranten gegen die Corona – Politik ebenso verunglimpft wie sie Mallorca–Urlauber als unsolidarisch und egoistisch darstellt. Eine Bevölkerung, die sich untereinander streitet, ob man zuhause bleiben solle oder nicht, kommt nicht auf die Idee, die Kritik gegen die Verursacher der vielen undurchdachten Maßnahmen zu richten.

Als man im vergangenen Herbst unsere Kinder in dauerdurchlüfteten Schulklassen frieren ließ, schlug unsere Kanzlerin vor: man solle auch schon mal hüpfen oder in die Hände klatschen, damit einem warm würde. Anstatt nun die Kanzlerin oder die Länderchefs zu kritisieren, dass während des Sommers keine Entlüftungsgeräte für die Schulen angeschafft wurden, fallen die Befürworter und Gegner von geöffneten Schulen übereinander her.

Wer aktuell beklagt, dass er das Fitness–Studio vermisse, der hört von unserer Bundesregierung, er solle halt – frei nach Marie Antoinette – Radfahren oder Gartenarbeit verrichten. Anstatt zu fragen, warum nicht genug Impfstoff eingekauft wurde, reden wir über Impfnationalismus und andere krude Wortschöpfungen, die das Versagen der Politik übertünchen sollen.

Die Panikmache des vergangenen Jahres hat tiefe Gräben aufgerissen, zwischen Menschen, die als selbstbewusste Bürger Ihre Freiheitsrechte bedroht sehen. Die erleben, wie Ihre Kinder unter dem ewigen Lockdown leiden, die die hohen ökonomischen Folgen befürchten und die Schäden an Demokratie und Gesellschaft beklagen. Und jenen, die eine absolute Sicherheit wollen, die ihnen vom Staat garantiert werden soll. Die eigenverantwortliches Handeln als Risiko betrachten und die mitunter eine neue Aufgabe als Platzwart gefunden haben. Wir diskutieren Ausgangsverbote, Kontaktverbote, Öffnungsdikussionsorgien, Knallhart-Lockdowns, totale Lockdowns. Und das alles, obwohl dies seit einem Jahr offensichtlich nicht geholfen hat.

Journalisten leiten Interviews mit der Information ein, dass sie keine Gegenpositionen zum Interviewten beziehen werden. Der Wald- und Wiesen–Philosoph Richard David Precht schwadroniert bei Lanz über das Verhältnis zwichen Staat und Bürger auf dem Niveau eines Zehntklässlers herum, und Karl Lauterbach sucht über die Medien eine neue Frau. Immer, wenn man denkt, noch schlimmer kann es nicht kommen, wird man umgehend eines Besseren belehrt. Das ist das aktuelle intellektuelle Niveau, auf dem wir uns bewegen.

Wir haben weder selbstbewusste Bürger mit einem gesunden Immunsystem noch haben wir Intellektuelle, die wichtige Diskussionen anstoßen und eigene Gedanken entwickeln. Stattdessen erleben wir ein hündisches Kriechen vor den politischen Zweckmäßigkeiten von Wirtschaftsvertretern ebenso wie von Journalisten, Künstlern, Schriftstellern, Musikern, Sängern und Philosophen. Wir haben zu wenige Wissenschaftler, die sich Gehör verschaffen und den Mut aufbringen, entgegen des Zeitgeistes Positionen zu beziehen und sie auch zu verteidigen.

Wir verlieren unsere Freiheit nicht mehr scheibchenweise. Wir haben sie bereits nahezu komplett verloren.

Bildquelle:

  • Massen_Menschen: pixabay

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