von JOSEF HUEBER
BERLIN – In persönlichen Gesprächen mache ich immer wieder die deprimierende Erfahrung, dass ich mit meiner altmodischen Einstellung zu Wahrheit und Lüge wohl nicht kapiert habe, wie Politik funktioniert. Meine Forderung nach einer auch in der politischen Welt zu postulierenden Verbindung von Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit, so sagt man mir, basiere auf Realitätsverlust, auf Ignoranz. Denn: Zum Zwecke des Machterhalts sei es nun einmal nötig, dass sich Politiker zuallererst nach der Umfragen-Meinung richten, nach den jeweils sich deutlich abzeichnenden Ansichten der Wähler. Und dass sie diese Klientel demnach auch bedienen müssen.
Wahrhaftigkeit, das Bekenntnis zum einmal Gesagtem, sei dabei sekundär, sobald sich die Meinungsfahne dreht. Denen da oben bleibe dann nichts anderes übrig, als sich mitzudrehen. (Wohl kein Zufall – der frühere Innenminister Seehofer wurde als „Drehhofer“ karikiert.) Dass dabei die Wahrhaftigkeit auf der Strecke bleibt, sei ein Kollateralschaden, ein notwendiges Übel. Ein Politiker, der Wahrhaftigkeit als Maßstab seines Handelns anlegt, könne sich im Politikbetrieb nicht lange halten.
Ist folglich die Forderung, von unserer politischen Elite nicht belogen zu werden, verlorene Liebesmüh, lediglich der traurige Gesang eines naiv-frommen Menschen, dem man als Kind vermittelt hat, dass Lüge inakzeptabel ist, ja sogar unmoralisch?
Klingt überzeugend, ist vielleicht sogar nicht zu widerlegen.
Sich damit abfinden geht dennoch nicht
Neil Postman, ein amerikanischer Medienforscher (†2003), berühmt durch sein Buch „ Wir amüsieren uns zu Tode“, sagte sinngemäß: Das historische Gedächtnis der meisten Menschen reicht zurück nur bis zu den Nachrichten in der Zeitung vom Vortag.
Neben der darin enthaltenen amüsanten Gesellschaftskritik erklärt er damit auch, wie es möglich ist, dass die Lüge als Gefahr für den politischen Machterhalt so gut wie ausgestorben ist. Eine aktuelle Beobachtung dazu: Einen politischen Rücktritt wegen nachgewiesener Lügen gibt es nicht mehr. Stichwort Corona. Die Forderung nach Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit eines Politikers gehört ganz offensichtlich der Vergangenheit an.
Die Verführung der Menschen durch Lügen hat Geschichte. Sie begann mit der Lüge der Schlange im Paradies: „Ihr werdet sein wie Gott.“ Die Erfolgsgeschichte des ideologisch getriebenen Versprechens einer gerechten Gesellschaft ist bekannt. Lenin hat die kooperierenden Mitläufer als „nützliche Idioten“ bezeichnet. Das wichtigste Werkzeug bei der Rekrutierung der Mitarbeiter an der zukünftigen, angeblich heilen Welt war die Lüge.
Und heute? Die Zeichen der Verführung vor allem junger Menschen durch ideologische Lügen leuchten schon an der Wand. Man muss sie nur sehen wollen.
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Bildquelle:
- Reichstagsgebäude: dpa