Wie urbane Milieus einfach kippen: Dietzenbach zeigt, was auf unsere Gesellschaft zukommen kann

von LUKAS MIHR

DIETZENBACH – Fast schon französische Zustände. Nicht viel anders als die Ausschreitungen in den Pariser Vororten 2005 war das, was sich vorletzte Woche im hessischen Dietzenbach nahe Frankfurt ereignete. Anwohner der Großwohnsiedlung Östliches Spessartviertel hatten mehrere Müllcontainer und eine Baustelle in Brand gesteckt. Als Feuerwehr und Polizei anrückten, wurden sie von etwa 50 Personen körperlich angegriffen, bzw. mit Steinen beworfen. Einige wenige Verdächtige wurden festgenommen, mussten aber wieder freigelassen werden. Die Ermittlungen gestalten sich als schwierig, da nur wenige Anwohner bereit sind, ihre Nachbarn zu belasten. Entweder Omerta oder die pure Angst.

Was genau war die Ursache der Ausschreitungen? Ein Racheakt? Schließlich waren bei einer Razzia im Keller eines Hochhauses kurz zuvor über 200 gestohlene Fahrräder sichergestellt worden. Oder entluden sich nur Wut und Langeweile, die sich während der Corona-Beschränkungen angestaut hatten?

Dass unweit von Frankfurt de facto eine rechtsfreie Zone entstanden ist, sorgt für Besorgnis. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) versprach ein hartes Durchgreifen. Mit Geldstrafen sei es nicht getan: „Wer Einsatzkräfte angreift, gehört in den Knast“ Der CDU-Landtagsabgeordnete Ismail Tipi, der als Türke keine Rassismusvorwürfe scheuen muss, äußerte sich noch deutlicher. Ein „Turbo-Rechtsstaat“, der „keine Rabatte gewährt, sondern seine ganze Härte zeigt“, müsse her.

Tatsächlich hat der soziale Brennpunkt einen ungewöhnlich hohen Ausländeranteil von 95 Prozent. Menschen aus 80 verschiedenen Nationen leben dort versammelt. Viele Einwohner sind jung – die bei weitem kriminellste Altersgruppe.

Viele Großwohnsiedlungen der 60er Jahre waren noch als gemischte Wohnviertel vorgesehen, dass dort einmal soziale Brennpunkte entstehen würden, war niemandem bewusst. Damals noch unter dem Namen Starkenburgring geplant, sollten tausende Bewohner einziehen. Doch die Schätzungen waren deutlich überhöht und viele Wohnungen blieben leer. Dementsprechend wurden die Preise gesenkt, wodurch die bereits erwähnte Klientel ins Viertel kam. Dabei hatte die SPD einst gehofft, Dietzenbach in einen „Edelvorort“ Frankfurts zu verwandeln.

Schnell grassierte im ganzen Viertel Kriminalität. Mehrfach wurden Personen ermordet aufgefunden, doch die Ermittlungen verliefen oft im Sande. Türkische Großfamilien schächteten Hammel, so dass auch die Balkone unter ihnen mit Blut verschmiert wurden.  Marokkaner errichteten in einem Kellerraum eine Koranschule.

Strenge Hierarchie auch im Ghetto. Die wenigen Deutschen, die im Viertel verblieben waren, wählten zumeist die Republikaner und blickten auf die Türken herab, die wiederum abfällig auf die Sinti und Roma schauten. Müll wurde oft aus den Fenstern geworfen, die Flure rochen nach Urin, die Gartenanlagen waren mit Brennnesseln überwuchert.

Doch wie so oft, antwortete die Kommunalpolitik vor allem mit viel Verständnis. Im Viertel wurden Sprechstunden in Muttersprache angeboten, damit die Bürger ihre Anliegen vortragen konnten. Sogar ein eigener Fernsehsender wollte Aufklärungsarbeit leisten. So wurde in den Sendungen zum Beispiel die Müllentsorgung erklärt und auch – gerade aus heutiger Perspektive geradezu ironisch – wie man am besten für einen reibungslosen Feuerwehreinsatz zu sorgen habe. Klassische Symbolpolitik: 1993 beschloss die Stadtverordnetenversammlung, den Starkburgring in Spessartviertel umzubenennen. Der schlechte Klang des vorherigen Namens sollte so abgeschüttelt werden. Doch wie der renommierte Linguist und Psychologe Steven Pinker warnte, wird ein neuer Name schon nach kurzer Zeit den gleichen schalen Beigeschmack tragen, solange die zugrundeliegenden Probleme die gleichen bleiben.

In den 90er Jahren forderte eine Wählergemeinschaft den Abriss des Viertels. Aber wohin mit den Einwohnern? Bürgermeister Jürgen Heyer von der SPD lehnte diese Pläne ab und forderte ein Sanierungskonzept. Ähnliche Pläne wurde auch in den Jahren danach verfolgt und schienen auch kurzzeitige Besserung zu bringen. Auf lange Sicht änderte sich jedoch nichts.

Frankfurt hat einen der höchsten Ausländeranteile in ganz Deutschland. Die Vorfälle in Dietzenbach lassen ahnen, dass derartige Ausschreitungen künftig eher noch zunehmen dürften.

 

 

Bildquelle:

  • Dietzenbach (Hessen): stadt dietzenbach

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