ZUR DEBATTE: Wer sich auf Putin einschießt, vereitelt ein baldiges Kriegsende

Der russische Präsident Wladimir Putin: Wie ist er noch zu Verhandlungen zu bewegen? Foto: Ramil Sitdikov/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

Gastbeitrag von DR. ALBERT WUNSCH

BERLIN – Da stürzt ein Mann aus einer Bankfiliale auf eine belebte Straße. Er hat eine Geisel in seiner Gewalt. Die schussbereite Waffe ist gegen ihren Kopf gerichtet. Die Passanten geraten in Angst und Erstarrung. Die Polizei trifft ein. Diese richtet folgende Botschaft per Megafon an den Akteur: „Sie sind ein Gewaltverbrecher. Wir verurteilen ihr Handeln auf’s Schärfste. Daher fordern wir sie auf, ihre grausame Geiselnahme sofort zu beenden.“ Stopp! Das war eine Ausbildungs-Übung zur Veranschaulichung, wie eine naive De-Eskalations-Strategie als Konflikt-Verstärker wirken kann. Zeitgleich versuchen „in echt“ Polizei-Psychologen sich in die möglichen Motive hineinzufühlen, um so herauszufinden, welche Beziehungs-Person diesen Geiselnehmer am ehesten stoppen könnte, um eine Kurzschluss-Handlung zu vermeiden.

Nun zur politischen Realität: Da äußert sich beispielsweise die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock recht markig mit: „Putin wollte diesen Krieg“, wirft ihm „dreiste Lügen“ vor und richtet unterschiedlichste Forderungen an ihn. Friedrich Merz twittert: Aus Wladimir Putin „ist nun endgültig und für alle Welt sichtbar ein Kriegsverbrecher geworden.“ Fußballtrainer Jürgen Klopp bezeichnet Putin schlicht „als wirklich bösen Mann“ und Bundeskanzler Olaf Scholz will „… Kriegstreibern wie Putin Grenzen setzen“. Aber: Reden im Tacheles-Modus dienen – bewusst oder unbewusst – vorrangig der eigenen Spannungs-Reduktion oder/und einer persönlichen Profilierung. Gleichzeitig wird die Problemlösung be- oder verhindert und befeuert die Gewalt-Eskalation kräftig. Und in Abgrenzung zu einem realen Polizeieinsatz werden beim ‚Fall Putin’ all jene Menschen, welche Anhaltspunkte für seine Beweggründe äußern, um so möglichst wirksame Deeskalations-Schritte entwickeln zu können, als „Putin-Versteher“ diskreditiert oder gar als Sympathisanten angegriffen.

Eine dämonisierende Sprache hat das Zeug zum Brandbeschleuniger

Eine kritische Analyse der Aussagen zur Verurteilung der militärischen Invasion Russlands gegen die Ukraine offenbart, dass viele Politiker durch ihre Wortwahl den Krieg personifizieren, auf Putin konzentrieren und die Kampfhandlungen anheizen. Dabei scheint ein Überbietungs-Wettbewerb zu existieren, wer wohl die drastischsten oder aggressivsten Behauptungen zum Handeln des Präsidenten der Russischen Förderation von sich gibt.

Als ich mit Studenten innerhalb meiner FOM-Vorlesung ‚Verhandlungsführung’ unter Einbeziehung dieser tagespolitischen Beispiele zur Wirkung personifizierter Vorwürfe in eine Kurzanalyse einstieg, stellte ich die Frage, wie sie persönlich auf solche Sprachmuster reagieren würden. Ganz spontan kam: „Ich würde mich nicht ernst genommen fühlen, würde noch wütender werden und vielleicht noch etwas zulegen.“ Wir resümierten, dass eine deeskalierende Sprache – hier wird besonders auf die Regeln zur gewaltfreien Kommunikation von Marshall B. Rosenberg Bezug genommen – sich an anderen Umgangsstilen orientiert.

Je gefährlicher eine Situation, je vorsichtiger und abwägender sollten – schon aus Eigennutz – die Interventionen sein. Jede Personalisierung von Konflikten verschärft diese, weil dann der/die Betroffene sofort auf – meist archaische – Verteidigungs- bzw. Gegenangriffs-Muster schaltet. Schnell kommt dann die Steinzeit-Axt zum Einsatz. So verstärken Diskreditierung und Diffamierung Katastrophen zusätzlich.

Jede ‚Schwarz-Weiß-Weltsicht’ steht im Widerspruch zur Wirklichkeit

Besonders wenn sich Politiker zu inakzeptablen Vorgängen in anderen Staaten äußern, sollten sie im Hinblick auf eigene Handlungen gegen die Menschlichkeit, Rechtsbrüche, Verfassungs-Verstöße bis hin zu eklatanten militärischen Maßnahmen unter Missachtungen des Völkerechtes, eine kräftige Portion Demut zum Ausdruck bringen. Ergänzend haben selbst angemessene Äußerungen ein starkes Eskalations-Potential, wenn sie im Anspruch einer moralischen Überlegenheit geäußert werden. Denn einem Denkmuster: ‚Wir die Guten müssen den Bösen abstrafen’, fehlt einerseits die Wahrhaftigkeits-Basis und bietet andererseits keine Befriedungs-Chance.

Zur Wichtigkeit der Differenzierung zwischen Tat und Täter

Ein uralter Grundsatz der christlichen Ethik sowie der aktuellen Konflikt-Vermeindungs-Forschung ist die Differenzierung zwischen Tat und Täter. So kann eine Handlung als verwerflich, kriminell, menschenverachtet oder bestialisch bezeichnet werden, aber der Handelnde sollte nicht gleichzeitig diffamiert werden. So ist die Entscheidung für einen würdevollen Umgang eine essentielle Frage der politischen oder lebenspraktischen Klugheit. Denn mit wem soll über die Beendigung eines inszenierten kriegerischen Wahnsinns gesprochen werden, wenn der/die Hauptakteure vorher auf übelste Weise mit Schmäh-Attacken überschüttet wurden? Wichtig: Wer einen Menschen erst einmal diffamierte, sollte anschließend von diesem nicht die Größe zu Einsicht oder Umkehr erwarten.

Wer den Teufel mit Beelzebub austreiben will, setzt auf den Misserfolg

Die alltägliche Erfahrung lehrt, dass Sanktionen und Strafen meist zur Problem-Verhärtung beitragen. Auf keinen Fall sollte so jedoch ein schnelles Ende des Krieges erwartet werden. Denn totalitäre Machthaber haben zu oft bewiesen, dass selbst ihr seit Jahrzehnten dahindarbendes Volk diese kaum zu Einlenk-Verhandlungen führten. Wenn Sanktionen jedoch direkt auf die Finanzelite zielten, würde wenigstens nicht das Volk die Folgen der politischen Kriegsentscheidung auslöffeln müssen. Je stärker die drastischen Sanktionen die russische Bevölkerung treffen, je schneller wird sich dieses als Geisel des ungeliebten oder gar verhassten Westens empfinden. Außerdem ist es ungerecht, dass ca. 146 Millionen russische Bürger darunter leiden, weil die politische Führung einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt.

Tacheles-Reden drückt kraftvoll Ohnmacht aus und schürt des Feuer

Das Schwingen moralischer Keulen mag ein angenehmes Gefühl der Art sein:“Dem hab ich’s nun aber deutlich gesagt!“ Doch das Problem wird dabei verstärkt. Wenn also wirklich diese unsere ganze Welt bedrohende Kämpfe in der Ukraine schnell beendet werden sollen, dann ist jeder gegen Personen gerichtete ‚Klartext’ zu stoppen. Die eigentliche Herausforderung in ausweglos scheinenden Situationen besteht nicht in einer martialischen Verdeutlichung von Leid und Tod auslösenden Handlungen, sondern in der Entwicklung von Schritten, die für ein Gegenüber – möglichst ohne Gesichtsverlust – gehbar sind. Dabei sollten ALLE Zugangs-Möglichkeiten zum russischen Präsidenten und anderen wichtigen Personen seines politischen und privaten Umfeldes genutzt werden. Besonders eignen sich dazu natürlich all jene Menschen, welche einen persönlichen Bezug zu ihm haben. Diese Mühe sollte investiert werden, um den menschenverachtenden Krieg, der das Leben und die Zukunft des urkrainischen Volkes auszulöschen droht, zu stoppen.

© Dr. Albert Wunsch, 41470 Neuss, Im Hawisch 17

Albert Wunsch ist promovierte Erziehungswissenschafter und Psychologe, Supervisor (DGSv), Konfliktcoach, Erziehungs- und Paarberater (DGSF). Seit über 10 Jahren ist er an der Hochschule für Oeconomie und Management (FOM) in Neuss und Düsseldorf tätig. Vorher leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss und lehrte anschließend für 8 Jahre hauptamtlich an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen (KatHo) in Köln. Daneben hatte er über 30 Jahre einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni sowie der FH Düsseldorf und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter „Die Verwöhnungsfalle, Mit mehr Selbst zum stabilen ICH! Resilienz als Basis der Persönlichkeitsentwicklung oder Boxenstopp für Paare“.

Bildquelle:

  • Russlands Präsident Putin: dpa

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