von FELIX MAXIMILIAN LEIDECKER
Neue Erkenntnisse über die Waffe des Attentäters Anis Amri gibt es. Das haben die Ermittler heute mitgeteilt. Um Projektile ging es dabei. Doch eine Betrachtung über den Fortgang der Ereignisse, die zum Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz führten, ist deutlich zielführender. Wer sich mit den Details auseinandersetzt, begreift schnell, wie fragil unser System ist, wenn wir nicht etwas daran ändern.
Am Montag, 19. Dezember 2016, kam es auf dem Weihnachtsmarkt nahe der Gedächtniskirche zu einem islamistischen Terroranschlag, bei dem zwölf Personen ihr Leben verloren und viele weitere verletzt wurden. Die gesellschaftliche Aufarbeitung der Tat wurde durch die Weihnachtsfeiertage unterbrochen. Viele Menschen setzten ihre Prioritäten – gerade angesichts eines aufwühlenden Jahres 2016 – auf eine geruhsame Zeit im Kreise ihrer Familien.
Doch Weihnachtstage und Jahreswechsel sind vorbei. Nun ist es eine Pflicht, diese Dinge zu überprüfen auch Fehler zu lokalisieren und abzustellen. Gerade
weil am Ende dieser Kausalkette 13 Menschen ihr Leben verloren haben. Jeder, der über Flüchtlings- und Sicherheitspolitik in Deutschland diskutiert, muss sich dieser Vorgänge bewusst sein. Jeder, der sich politisch engagiert, muss wissen, dass er eine Verantwortung gegenüber den Menschen in unserem Land hat. Niemand kann sich einer adäquaten Aufarbeitung frei machen.
Hier die gesammelten Fakten rund um den bisher schlimmsten Terroranschlag in Deutschland: die ganze Geschichte!
Am 22. Dezember 1992 wird Anis Amri in der Stadt Oueslatia in Tunesien geboren, die als salafistische Hochburg bekannt ist. Er ist eines von neun Kindern. Amri verlässt die Schule mit 15 Jahren und geht anschließend wechselnden Gelegenheitsarbeiten nach. Er begeht mehrere Straftaten, darunter Diebstähle und Drogendelikte. 2010 stiehlt er einen Lastwagen, bevor er sich 2011 unter Mithilfe von Schleppern und mit finanzieller Unterstützung seiner Familie nach Italien
absetzt, wo er Asyl beantragt. Er wird von einem Gericht in Kairouan in Abwesenheit zu fünf Jahren Haft wegen schweren Raubes verurteilt. Dieses Urteil wird niemals vollzogen werden, es wird ferner niemals einen Auslieferungsantrag Tunesiens geben. Ob den Behörden innerhalb der EU diese Strafbarkeit bekannt war, ist ungewiss.
Im Zuge seiner illegalen Einreise nach Italien kommt Amri im Jahre 2011 per Boot nach Lampedusa, wo die Polizei ihn im Februar 2011 registriert. Ende März 2011 erlaubt der damalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi auf massiven medialen Druck hin, 6.000 dort wild campierenden Flüchtlingen, nach Sizilien oder aufs italienische Festland zu kommen. Indem er sich in betrügerischer Absicht um zwei Jahre jünger macht und 1994 als sein Geburtsjahr angibt, gilt
Amri nun als als minderjähriger, unbegleiteter Flüchtling. Zunächst kommt er ins „Instiuto Giovanna Romeo Sava“, das nach dem Ansturm tunesischer Flüchtlinge auf Italien auch minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge aufnimmt. Von hier aus besucht er eine öffentliche Mittelschule. Laut der italienischen Tageszeitung „La Stampa“ terrorisiert Amri in dieser Zeit seine Mitschüler regelrecht. In seinem Wohnheim kommt es darüber hinaus zu Gewalttätigkeiten. Amri
und vier andere, ebenfalls angeblich minderjährige Flüchtlinge aus Tunesien, protestieren gegen das ihrer Meinung nach zu schlechte Essen, gegen zu geringe bzw. nicht erfolgende Zuteilung von Zigaretten, Alkohol und Telefonkarten, ebenso gegen die ihrer Meinung nach übermäßig lange Anerkennungsprozedur im Asylverfahren. Oft gewaltsam, stets aber laut fordernd.
In Folge legen Amri und die anderen Vier am 23.Oktober 2011 ein Feuer in den Räumen des Heims und verprügeln einen Erzieher, der mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Es entsteht ein Sachschaden von über 30 000 Euro. Amri und seine Mittäter werden verhaftet
und ins Gefängnis von Catania gebracht. Der damals nach heutigem Wissensstand 19-jährige Amri wird wegen schwerer Körperverletzung und Brandstiftung zu vier Jahren Haft verurteilt.
Im Gefängnis geht es innerhalb der nächsten vier Jahre weiter mit Gewalttätigkeiten: Weil er andere Häftlinge schikaniert, sie verprügelt, Wärter attackiert und seine Zelle verwüstet, wird er immer wieder in andere Gefängnisse verlegt. Es folgen Haftanstalten in Enna, Sciacca, Agrigent. Schließlich landet er in Palermo zuerst im „Pagliarelli“-Gefängnis, dann im berüchtigten Mafia-Gefängnis „Ucciardone“. Im Mai 2015 wird er nach Caltanissetta in Abschiebehaft verlegt. Die Abschiebung nach Tunesien scheitert jedoch, weil Tunesien seine Aufnahme trotz ausstehendem Haftbefehl verweigert. In der Folge wird Amri freigelassen…
Der junge Mann erhält aber die Auflage, Italien zu verlassen. In welches Land er weiterzieht, ist dem italienischen Staat egal. Die italienischen Behörden übermitteln jedoch alle relevanten Informationen, etwa über Amris Verurteilung, sein Verhalten in Haft und die gescheiterte Abschiebung, in das Schengener Informationssystem „SIS“ der Europäischen Union. Im Juni 2015 mit dem Beginn der Flüchtlingskrise reist er über Freiburg nach Deutschland ein, wird
dort aber ob der chaotischen Zustände erst am 30. Juli registriert, da bis auf wenige Ausnahmen keine Kontrollen der EU-Binnengrenzen stattfinden. Er reist von dort mutmaßlich zunächst weiter nach Nordrhein-Westfalen, wo er sich unter anderem in Oberhausen und Kleve aufhält. Dies geschieht obwohl seine Identität nicht zweifelsfrei geklärt ist.
Von seiner Vorstrafe in Italien und seiner ausstehenden Haft in Tunesien nehmen die deutschen Behörden offenbar keine Kenntnis. Dabei
benutzt er unterschiedliche Namen: Mal Mohammad Hassan, mal Ahmed Almasri oder Ahmad Zarzour. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kann ihm mehr als fünf verschiedene Identitäten zuordnen, was allerdings ohne jede Folge bleibt. Eine davon läuft auf den Namen Ahmad Zaghoul. Die Ausländerbehörde in Kleve stellt Amri trotzdem eine Duldungsbescheinigung auf den Namen Ahmed Almasri aus. Das BAMF gibt an, Amri absichtlich
unter einem falschen Namen geführt zu haben, „um ihn trotz laufender Ermittlungen in Sicherheit zu wiegen“. Wieso man dies einem Zugriff und einer Abschiebung gegenüber präferiert, ist nicht bekannt.
Ein Informant des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes berichtet im Frühsommer 2015, Amri verkehre regelmäßig im Netzwerk der Moschee des „Deutschsprachigen Islamkreises Hildesheim“ (DIK) des Salafisten-Predigers Abu Walaa, einem der wichtigsten IS-Rekrutierer in Deutschland. Mehrfach habe Amri von möglichen Attentaten gesprochen. 2015 ist er Teil einer Gruppe, die sich für den Kampf in Syrien ausbilden lässt. Amri soll in Deutschland geblieben sein, weil sein Umfeld Anschläge in Deutschland einer Ausreise vorgezogen habe. Einen Mann, der als Quelle der Polizei Nordrhein-Westfalen geführt wird, soll Amri gefragt haben, ob dieser Schusswaffen besorgen könne. Dies alles bleibt erneut folgenlos.
Im März 2016 initiiert das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen ein Verfahren gegen Amri wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat. Er wird als sog. „Gefährder“ eingestuft und ab dem 14. März 2016 verdeckt observiert. Auch seine Kommunikation wird überwacht. Dies hat keinerlei weitere Folgen, wie auch seine Vorstrafen, seine Taten in Deutschland, sein Identitätsbetrug sowie sein ausstehender Haftbefehl aus Tunesien weiterhin folgenlos bleiben.
Da sich Amri vorwiegend in Berlin aufhält, wird die Observierung von den Berliner Behörden übernommen.In Berlin verkauft Amri unter anderem Drogen im Görlitzer Park. An einem Busbahnhof in Berlin wird er verhaftet, aber wieder laufen gelassen. Die liberale Drogenpolitik im Bundesland Berlin lässt keine Aussicht auf ein erfolgreiches Verfahren gegen ihn zu, sämtliche vorherigen Erkenntnisse bleiben erneut folgenlos.
Im April 2016 stellt er in Dortmund erneut einen Asylantrag und gibt dabei in betrügerischer Absicht an, Ägypter zu sein und in seiner Heimat politisch verfolgt zu werden. In der Folge hat er daher Anspruch auf Zahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, welchen er auch geltend macht. Der Asylantrag wird im Juni 2016 als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Seitdem hat er nur noch eine Duldung der Klever Ausländerbehörde, weitere Folgen ob seiner Vorstrafen, seinem offensichtlichen Betrugsversuch und seinem ausstehenden Haftbefehl in Tunesien hat er allerdings immer noch nicht zu befürchten.
Laut Behörden hält sich Amri in Folge in Berlin, Freiburg im Breisgau und Nordrhein-Westfalen auf, offiziell gemeldet bleibt er, auch nach seinem Untertauchen, trotzdem: In der Flüchtlingsunterkunft in Emmerich/NRW. Im Juli 2016 wird nach einer Messerstecherei in einer Neuköllner Bar gegen Amri wegen einer
gefährlichen Körperverletzung ermittelt. Die Ermittlungen bleiben erfolglos, da er zu diesem Zeitpunkt bereits untergetaucht ist. Seine Vorstrafen und sein ausstehender Haftbefehl sowie die Tatsache, dass dem BAMF bekannt ist, dass er mehrere Scheinidentitäten unterhält, spielen dabei für die Berliner Behörden keine Rolle.
Am 30. Juli 2016 wird er schließlich bei einer Personenkontrolle in Friedrichshafen/BaWü aufgegriffen und kommt auf Anordnung des Amtsgerichts Ravensburg in Abschiebehaft in die dortige Justizvollzugsanstalt. Auf Antrag der Ausländerbehörde Kleve wird er allerdings bereits am 1. August wieder freigelassen. NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) erklärt, Amri habe nicht abgeschoben werden können, weil er keine gültigen Ausweispapiere hatte und Tunesien seine
Staatsangehörigkeit zunächst bestritt. Trotz positiven Wissens um diese Tatsache konnte er 2015 allerdings unbehelligt nach Deutschland gelangen, seine Vorstrafen und sein ausstehender Haftbefehl sowie die Tatsache, dass dem BAMF bekannt ist, dass er mehrere Scheinidentitäten unterhällt, spielen dabei erneut keine Rolle. Er ist seitdem wieder auf freien Fuß und kann sich innerhalb der Bundesrepublik Deutschland frei bewegen.
Im September 2016 wird Amris Observierung eingestellt, weil laut Generalstaatsanwaltschaft Berlin „die umfangreichen Überwachungsmaßnahmen […] trotz Verlängerung keine Hinweise [erbracht hatten], um den ursprünglichen Vorwurf zu verifizieren oder diesen oder einen anderen staatsschutzrelevanten Tatvorwurf zu erhärten, so dass keine Grundlage für eine weitere Verlängerung der Anordnungen zur Überwachungsmaßnahmen mehr bestand“. Sämtliche
Vorstrafen und Vorkommnisse der letzten Jahre reichen den Behörden nicht aus, sie bleiben auch weiterhin folgenlos.
Der marokkanische Geheimdienst DGST warnt am 19. September 2016 konkret vor Anis Amri. Der Mann habe Kontakte zur Terrormiliz Islamischer Staat und sei bereit, einen Terroranschlag durchzuführen. Demnach hatte Amri in Deutschland Kontakt zu mindestens zwei Anhängern der IS-Miliz; bei einem soll es sich um einen von deutschen Behörden nach Russland ausgewiesenen Russen gehandelt haben, bei dem anderen um einen Marokkaner, dessen Reisepass von der Berliner Polizei eingezogen wurde. Auch auf eine konspirative Adresse in Dortmund, wo Amri seit 14 Monaten verdeckt wohnen soll, weist der marokkanische Geheimdienst das BKA hin. Zudem wird Amri vorgeworfen, in Tunesien versucht zu haben, Mitglieder für die Terrormiliz IS anzuwerben.
Die Meldungen erreichen damals zeitgleich den Bundesnachrichtendienst (BND) und das Bundeskriminalamt (BKA). Auch dies bleibt folgenlos, Amri kann auch weiterhin nach Belieben schalten und walten.
Amri soll in dieser Zeit seine mehrfachen Identitäten auch zum Sozialbetrug genutzt haben. So soll die Staatsanwaltschaft Duisburg im April 2016 ein Ermittlungsverfahren gegen Amri eröffnet haben, weil er im November 2015 mehrfach Sozialleistungen ohne Rechtsgrundlage erschleicht. Auch dies bleibt – Sie ahnen es vielleicht – folgenlos. Selbst, als er von den Behörden zwischenzeitlich festgesetzt wird.
Am 11. Oktober 2016 warnt der tunesische Geheimdienst erneut das BKA sowie den Bundesnachrichtendienst ob Amris Absichten sowie seinen Kontakten zum Islamischen Staat. Auch hier wieder folgenlos, auch hier wieder spielen Amris Vorstrafen, Straftaten und sein ausstehender Haftbefehl in Tunesien keine Rolle und haben keine Konsequenzen. Auch den US-Behörden ist Amri zu dieser Zeit bereits bekannt. Die „New York Times“ berichtet, dass er sich im Internet über
den Bau von Sprengsätzen informiert und mindestens einmal über „Telegram Messenger“ Kontakt zur Terrormiliz IS aufgenommen haben soll. Sein Name steht zudem auf der Flugverbotsliste der USA. Ob es darüber einen Austausch zwischen den Behörden gibt, ist nicht bekannt. Folgen allerdings erneut: Keine.
Im November 2016 wird nun der Prediger des DIK, Abu Walaa, in Hildesheim festgenommen. Amri soll sich in seinem Umfeld bewegt haben. Gleichzeitig wird auch der Dortmunder Boban S. festgenommen, bei dem Amri zeitweise gewohnt haben soll. Trotz des positiven Wissens über Amris Taten und seinen Plänen wird nichts unternommen. Im selben Monat ist Anis Amri Thema einer Sitzung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) von Bund und Ländern. Die Beamten dort sind in Sorge, wie mobil und wie radikal Amri ist. Dies ist allen einschlägigen Behörden nun bekannt, trotzdem bleibt dies folgenlos.
Am 14. Dezember 2016 wird eine neue Version des Personenprofils Amris von den Sicherheitsbehörden erstellt, in das die Informationen mehrerer Dienststellen einfließen. So bewertet das Landeskriminalamt Düsseldorf Amri als „einen Salafisten und radikalen Fundamentalisten“. Als „Sympathisanten des Islamischen Staates“ stuft ihn das Dortmunder Polizeipräsidium ein. Es soll außerdem bekannt sein, dass „er nach Bombenbauanleitungen suchte und sich als Selbstmordattentäter anbot“. Trotzdem wird Amri nicht weiter überwacht, er kann sich innerhalb der Bundesrepublik Deutschland frei bewegen und seinen Terroranschlag planen.
Die Suche nach Anleitungen zum Bombenbau wie auch die Kundgabe des Wunsches, als Selbstmordattentäter sterben zu wollen, begründen für die Behörden keinen hinreichenden Tatverdacht. Am 19. Dezember 2016 kurz nach 15 Uhr bringt Amri den Sattelzug einer polnischen Spedition am
Friedrich-Krause-Ufer in Berlin-Moabit unter seine Kontrolle. Amri soll noch vor 16 Uhr versucht haben, das Fahrzeug zu lenken, bleibt aber zunächst weiter am Friedrich-Krause-Ufer stehen, wie später den GPD-Daten entnommen werden kann. Er soll von dort gegen 19.30 Uhr losgefahren und nach einer direkten Fahrt zum Breitscheidplatz in den dort stattfindenden Weihnachtsmarkt gefahren sein. Eine automatische Bremsvorrichtung des LKW, welche das Vehikel nach einem
Zusammenprall automatisch zum Stehen bringt, ist die einzige, glückliche Ursache, dass es nicht noch mehr als die zwölf Todesopfer zu beklagen gibt. Den polnischen Fahrer soll er mit einer kleinkalibrigen Pistole (Kaliber 22) erschossen haben. Ob dies schon vor oder erst unmittelbar nach der Tat zum Tod des Fahrers führt, ist noch nicht erwiesen. Anschließend flieht er aus dem Fahrzeug.
Aufgrund von Zeugenaussagen zu Aussehen und Fluchtweg des Täters wird etwa eine Stunde nach dem Anschlag ein Mann pakistanischer Herkunft in der Nähe der Berliner Siegessäule festgenommen. Der Verdächtige bestreitet die Tat. Auch können an seinen Händen keinerlei Schmauchspuren festgestellt werden. Da auch sonst keine Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung gefunden werden, teilen BKA und Generalbundesanwaltschaft am Nachmittag des 20. Dezember
mit, der Festgenommene sei doch nicht der Täter. Er wird am Abend des selbigen Tages freigelassen. Ob in der Zwischenzeit weiterhin nach Tätern gefahndet wird, oder ob bis zur Freilassung des falschen Tatverdächtigen wertvolle Zeit vergeht, ist öffentlich bisher nicht bekannt.
Erst am Tag nach dem Anschlag wird das Fahrerhaus des LKW kriminaltechnisch untersucht. Erst nach Stunden wird dabei unter dem Fahrersitz ein Geldbeutel mit den Duldungs-Papieren Amris entdeckt. Erst am Nachmittag wird eine öffentliche Fahndung nach Anis Amri eingeleitet. Am späten Nachmittag des 20.12.2016 verbreitet das IS-Sprachrohr „Amaq“, der Attentäter habe als „Soldat des Islamischen Staates“ gehandelt.
In der Zwischenzeit werden Weihnachtsmärkte in Deutschland gegen Terrorakte durch LKWs mit Hilfe von Barrieren gesichert, was vorher nicht der Fall war. Mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizeikräfte patrouillieren auf Weihnachtsmärkten im urbanen Bereich. Amri bleibt bis zum Donnerstag, 23. Dezember, drei Uhr früh, auf der Flucht. Das sind insgesamt 55 Stunden…
Obwohl zu diesem Zeitpunkt bekannt ist, dass Amri mit einer Pistole bewaffnet und als islamistischer Selbstmordattentäter zu allem fähig ist, kann er trotzdem quer durch Europa fliehen: Zunächst von Berlin aus quer durch Deutschland nach Nordrhein-Westfalen, von dort weiter über die Grenze nach Holland, von Holland nach Belgien, wo er am Hauptbahnhof von Brüssel von einer Videokamera gefilmt wurde, dann nach Frankreich. Von Frankreich weiter nach Italien: Zunächst nach Turin, dann weiter in die lombardische Hauptstadt Mailand, von wo er am Donnerstag, 23. Dezember, zum Provinzbahnhof „Sesto San Giovanni“ gelangt. Dort wird er durch Zufall von zwei Polizisten einer Routinekontrolle unterzogen und schießt sofort. Ein Beamter wird dabei schwer verletzt, der andere kann ihn in Notwehr erschiessen. Trotz europäischen Haftbefehls, europaweiter Fahndung und der Tatsache, dass er bewaffnet ist und bekanntermaßen zu allem entschlossen ist, kann er vier Tage lang durch vier europäische Länder mittels öffentlicher Verkehrsmittel fliehen und dabei mehrere
Grenzen übertreten.
Am selben Tag erscheint auf „Amaq“, der Propagandaplattform der Terrormiliz Islamischer Staat, ein Video, auf dem sich Amri zum Anführer der Terrormiliz, Abu Bakr al-Baghdadi, bekennt und seinen Terroranschlag ankündigt. Er steht dabei auf der Kieler Brücke am Nordhafen von Berlin-Moabit. Die befindet sich zwischen dem Friedrich-Krause-Ufer, wo Amri den Lkw in seine Gewalt gebracht hat, und dem Moscheeverein in der Perleberger Straße, vor dem er Stunden nach der Tat angeblich gefilmt wird. Da im Hintergrund belaubte Bäume zu sehen sind, wird vermutet, dass das Video mehrere Wochen vor der Tat aufgenommen wurde.
Trotz aller Vorstrafen, Haftbefehle, dem Wissen um seine Terrorabsicht, seiner Einstufung als Gefährder, der Warnung diverser ausländischer Geheimdienste, seiner Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat und seinen Kontakten zum IS wird Amri zu dieser Zeit durch die Behörden nicht mehr überwacht, seine Videobotschaft mit der Ankündigung seines Terroranschlags Wochen vor der Tat wird nicht abgefangen, zwölf unschuldige Menschen sterben kurz vor Weihnachten am Berliner Breitscheidplatz.
Bildquelle:
- Anis Amri: dpa