MINSK/BELARUS – In Minsk, der Haupstadt von Belarus (Weißrussland), fand heute die größte Demonstration in der Geschichte des Landes statt. Dabei protestierten mindestens 200.000 Bürger gegen Wahlmanipulationen, Korruption und die überharten Polizeieinsätze der vergangene Tage, die vom Noch-Präsidenten Alexander Lukaschenko angeordnet wurden. Der sprach auf einer Unterstützer-Demonstration vor etwa 10.000 Teilnehmern und beanspruchte, die jüngste Wahl mit 80 Prozent der Stimmen gewonnen zu haben. Angesichts des optischen Eindrucks eine lächerliche Vorstellung. In seiner hochemotionalen Ansprache bezeichnete er die friedlichen Gegendemonstranten unweit des Platzes mit seinen eigenen Anhängern als „Ratten“ und Dreck“. Die Forderung der Opposition nach Neuwahlen kommentierte Lukaschenko mit den Worten: „Wer soll dann noch arbeiten?“
Inzwischen spitzt sich die Lage in der Region in beunruhigender Weise zu. Am Sonntag hatte sich Russlands Präsident Wladimir Putin öffentlich geäußert und Lukaschenko „Militärhilfe“ zugesagt, eine Spezialität des Kreml, der auch im Kalten Krieg 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in Prag „Militärhilfe“ schickte. Nach den Massenprotesten auf dem Maidan in Kiew, brauchte Russland dann keine „Militärhilfe“ schicken, denn 25.000 Soldaten waren bereits auf der Krim stationiert. Ohne Hoheitsabzeichen an ihren Uniformen besetzten Bewaffnete Kasernen, Rathäuser und Polizeistationen und hielten als Farce eine „Volksabstimmung“ unter den Augen Tausender Uniformierter mit Kalashnikovs in den Händen ab. Heute ist die Krim ins russische Staatsgebiet völkerrechtswidrig eingegliedert, der Westen hat andauernde Sanktionen verhängt, und in der Ostukraine führen russische Separatisten und Söldner einen gnadenlosen Krieg, dem seit 2013 mehr als 10.000 Menschen zum Opfer gefallen sind.
Die Duplizität der Ereignisse ist beunruhigend auch für die europäischen Staaten, die wieder einmal machtlos zusehen müssen, wie Moskau Fakten schafft. Heute behauptete Putin, Russland müsse eingreifen, weil „Druck auf Belarus“ ausgeübt werde. Vom wem oder was sagte Putin nicht.
Das lieferte Lukaschenko nach, der dem westlichen Verteidigungsbündnis NATO vorwarf, Truppen an der Westgrenze des Landes zusammenzuziehen. Auch dafür blieb er jeden Beleg schuldig. Dafür beschimpfte er die Nachbarländer Polen und Litauen, beides NATO-Staaten. Das Muster ist bekannt, doch die Realität verändert es nicht. Die NATO unterhält auf Bitten der baltischen Staaten und Polens gemischte Kontingente von jeweils 1.000 Soldaten. Lächerlich anzunehmen, dass davon eine Bedrohung für Russland ausgehen könnte. Das Verteidigungsbündnis hatte die vorsichtige Stationierung in den vier Ländern bewusst so gewählt, dass es nicht als aggressiver Akt interpretiert werden kann.
Sollte Russland nun militärisch direkt gegen das Volk in Belarus mit Panzern und Soldaten eingreifen – Hilferuf! – dann hätten die NATO und auch die EU kaum eine Wahl. Sich wieder wie bei der Ukraine wegzuducken, würde einen immensen Gesichtsverlust bedeuten. Schon ist die Rede von der Stationierung weiterer, diesmal größerer Verbände in den Partnerländern, sogar von Manövern, die die nach wie vor gewaltige militärische Kraft des westlichen Bündnisses demonstrieren sollen. Und das wiederum könnte Putin nicht einfach so als Zuschauer hinnehmen.
In Belarus rasen zwei Schnellzüge aufeinander zu in diesen Tagen. Es geht dabei nicht um die Durchsetzung von Demokratie und Volkswillen, sondern um die Macht im Pufferland zwischen Russland und den NATO-Ländern Polen und Litauen. Und an diesem Pulverfass brennt seit heute die Lunte.
Im „Spiegel“ wird heute einer ein 27-Jähriger Protestteilnehmer aus Minsk zur Causa Lukaschenko zitiert: „Er warnt dauernd, dass andere Belarus erobern wollen – Polen, Tschechien, der Westen, wer auch immer. Er sieht nicht, dass wir Belarussen Belarus erobern wollen.“ Aber das wollten die Ukrainer auf dem Maidandamals auch…
Bildquelle:
- Demo_Minsk_Belarus_16.08.2020: theGermanZ