LONDON – Joachim Löw nahm Thomas Müller kurz in den Arm, bedankte sich bei seinem Assistenten Marcus Sorg und verschwand in den Katakomben des Wembley-Stadions. Irgendwie war es so, als hätten sie das Ausscheiden an diesem Abend geradezu erwartet. Die überschaubaren sportlichen Leistungen der Vorrunde, das ständige Theater um die demonstrativ aufgesetzte politische Korrektheit. Viele Fans hatten nicht das Gefühl, dass es bei dieser EU der Enttäuschungen noch vorrangig um Fußball geht.
«Es war eine große Enttäuschung für uns alle», sagte Löw in der ARD. «Es tut uns leid, dass wir jetzt aus dem Turnier raus sind.» Auf der Tribüne grinste Englands Fußball-Idol David Beckham und rieb sich die Hände. Die englischen Fans sangen inbrünstig «Football’s coming home».
Nach einer schmerzhaften Wembley-Schlappe muss Löw zwölf Tage zu früh in die Bundestrainer-Rente. Aggressive Engländer haben den Traum vom vierten deutschen Europameister-Titel abrupt zerstört und die einst glanzvolle Ära des Weltmeister-Coaches im EM-Achtelfinale vor dem ersehnten letzten Endspiel-Date beendet. «Wir hätten uns natürlich was anderes erhofft», sagte Löw. «Im Moment ist bei allen Spielern Totenstille, alle Spieler sind maßlos enttäuscht.» Routinier Toni Kroos bezeichnete das Aus als insgesamt «sehr, sehr bitter».
55 Jahre nach dem legendären WM-Endspiel 1966 brauchten die Three Lions am Dienstagabend kein historisch zweifelhaftes Lattentor, um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft erstmals wieder in einem entscheidenden Turnierspiel zu bezwingen. Löw hatte wieder einmal, als es schief lief im deutschen Spiel, keinen Plan B parat.
Sterling und Kane sorgen für DFB-Aus
Raheem Sterling (75. Minute) und Harry Kane mit seinem ersten EM-Treffer (86.) erzielten vor 41.973 euphorisierten Fans die Tore zum 2:0 (0:0)-Sieg der Engländer gegen eine in der spannungsgeladenen Stimmung viel zu harmlose DFB-Elf. Für Rekordcoach Löw endet die DFB-Zeit nach fast 15 Jahren und 198 Länderspielen als Bundestrainer mit einer herben Enttäuschung. «Er hat eine klasse Ära geprägt. Dass es heute so zu Ende geht, ist natürlich schade und auch sehr traurig», sagte Kapitän Manuel Neuer über den Nun-Ex-Bundestrainer.
Thomas Müller vergab in der 81. Minute bei einer der wenigen deutschen Tormöglichkeiten die Chance auf den Ausgleich. Während die DFB-Elf nur zum Kofferpacken nach einem Turnier mit mehr Schatten als Licht noch einmal ins EM-Quartier in Herzogenaurach zurückkehrt, um dann frustriert den Sommerurlaub anzutreten, geht die EM-Reise der Engländer weiter. Am Samstag soll im Viertelfinale gegen Schweden oder die Ukraine in Rom das Ticket für die nächste Wembley-Partie im Halbfinale gelöst werden. Der 11. Juli steht als Endspiel-Tag ganz dick im englischen Fußball-Kalender.
Löw und seine glücklosen DFB-Stars haben hat dann ungewollt frei. Im September startet Hansi Flick als neuer Bundestrainer mit der Fortsetzung der WM-Qualifikation für Katar 2022 ein neues Kapitel – viel Arbeit wartet nach der EM-Enttäuschung auf den einstigen Löw-Assistenten und Bayern-Erfolgscoach. Unmittelbar vor der Partie hatte Löw noch ein Anliegen geäußert. «Kein Trainer wünscht sich ein Elfmeterschießen, das ist immer ein Vabanque-Spiel», sagte der Bundestrainer – doch so hat er sich den Ausgang nicht gewünscht.
Kollektiver Kniefall vor dem Anpfiff
Die Deutschen traten nur zu Beginn engagiert auf, nachdem sich beide Teams schon vor dem Anpfiff vor aller Welt lächerlich gemacht hatte, weil sie auf Knien „ein Zeichen gegen Rassismus“ setzen wollten. Eine leere Geste, die nichts bewirkte, die billig zu haben ist und den Einfältigen unter den Zuschauern ein Gefühl des Gutseins vermittelte. Alle anderen schüttelten den Kopf über die politische Anpassungsfähigkeit der jungen Fußballmilionäre.
Überhaupt diese Atmosphäre im englischen Fußball-Tempel! Schon Stunden vor der Partie feierten Fans rund um das Stadion eine feucht-fröhliche Party. Auf den Sitzen waren auch schwarz-rot-goldene Fahnen ausgelegt, die fast ausschließlich einheimischen Fans sangen und lärmten und zelebrierten eine ausgelassene EM-Sause. Seit November 2019 hatte eine deutsche Nationalmannschaft wegen der Coronavirus-Pandemie nicht mehr vor solch einer Kulisse gespielt.
In der Anfangsphase beflügelte dies die DFB-Elf. Leon Goretzka, der bei seinem ersten Startelf-Einsatz bei diesem Turnier wie erwartet Ilkay Gündogan (Schädelprellung) ersetzte, war nach einem feinen Pass von Thomas Müller kurz vor der Strafraumgrenze nur durch ein Foul zu stoppen (8.). Den Freistoß aus zentraler Position schoss Kai Havertz aber in die englische Mauer. Neben Goretzka war auch Havertz‘ Chelsea-Kollege Timo Werner neu in die Startelf gerückt. Der Angreifer hatte nach einer guten halben Stunde die beste Chance zur Führung, scheiterte aber an Keeper Jordan Pickford (32.). Zwanzig Minuten vor Schluss musste Werner raus, für ihn kam Serge Gnabry.
Zu viele verlorene Zweikämpfe
Zwischen den beiden Chancen und in der Viertelstunde vor der Halbzeit dominierten aber die Engländer. Die Deutschen verloren zu viele Zweikämpfe im Mittelfeld, die Three Lions spielten aggressiver und erarbeiteten sich zeitweise ein deutliches Übergewicht. Löw verschränkte die Arme. Löw winkte frustriert ab. Was er da auf dem heiligen Rasen sah, konnte ihm überhaupt nicht gefallen. Sinnbildlich stand zu diesem Zeitpunkt Bayern-Profi Müller, der (zu) viel im leeren Raum rannte und versuchte, seine Mitspieler anzutreiben.
Doch Joshua Kimmich beispielsweise war ständig in der Defensive gebunden und konnte offensiv kaum Akzente setzen. Dies gelang den Engländern besser. Sterling scheiterte mit einem Schuss an Neuer, der wie sein Gegenüber Kane eine Kapitänsbinde in Regenbogenfarben als Zeichen für Toleranz und sexuelle sowie geschlechtliche Vielfalt trug (16.). Auch im Prestigeduell mit den Engländern hielt Löw an seiner Grundformation im 3-4-3 System fest. Sein Kollege Gareth Southgate änderte sein System und stellte in der Abwehr auf eine Dreierkette um, die wenige Minuten nach Wiederanpfiff fast bezwungen war.
Doch den großartigen Dropkick von Havertz lenkte Pickford reaktionsschnell über die Latte (48.). Wieder gehörte die Anfangsphase vor den Augen von Prinz William (39), dessen Frau Kate (39) und Sohn George (7) sowie Popstar Ed Sheeran (30, «Shape Of You») und Beckham (46) dem DFB-Team – wieder aber währte die Drangphase zu kurz. Stattdessen sorgten der starke Sterling und Kane mit seiner Turnierpremiere für den deutschen K.o.
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- EM-Aus: dpa