Krieg gegen die Ukraine: Fluchtkorridore, Raketenbeschuss und ein Telefonat

Rauch steigt aus dem Stahlwerk Asovstal auf. Foto: Alexei Alexandrov/AP/dpa

KIEW – Die Ukraine hofft auf weitere Rettungsaktionen für bedrohte Zivilisten aus der von Russland fast vollständig eroberten Hafenstadt Mariupol.

Russischen Angaben zufolge haben Zivilisten in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol seit Donnerstagmorgen die Möglichkeit zur Flucht aus dem belagerten Stahlwerk Azovstal. Zwar werde Azovstal weiter von russischen Truppen blockiert, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. «Aber es gibt auch Fluchtkorridore, die heute und in diesen Tagen funktionieren.»

Sowohl die russische als auch die ukrainische Seite haben bis einschließlich Samstag täglich mehrstündige Feuerpausen zugesichert. Ob am Donnerstag tatsächlich schon Menschen fliehen konnten, war aber zunächst unklar.

Am vergangenen Wochenende waren mehr als 150 Zivilisten aus Azovstal gerettet worden. Weitere Versuche von Evakuierungen aus der Großstadt am Asowschen Mee. Rund 200 Zivilisten sollen weiter in den Bunkeranlagen des Werks ausharren.

Nach Angaben ebenfalls auf dem Gelände verschanzter ukrainischer Kämpfer haben russische Soldaten und prorussische Separatisten bereits mit dem Sturm auf Azovstal begonnen. Der Kreml dementierte das am Donnerstag erneut: «Der Präsident und Oberbefehlshaber (Wladimir Putin) hat befohlen, von einem Sturm abzusehen», sagte Sprecher Peskow. «Der Oberbefehlshaber hat keinerlei andere Befehle gegeben.»

Steinmeier telefoniert mit Selenskyj

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am Donnerstag mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj telefoniert. Dabei seien die Irritationen aus der Vergangenheit ausgeräumt worden, teilte eine Sprecherin des Bundespräsidenten mit. Steinmeier habe Selenskyi seine «Solidarität, Respekt und Unterstützung für den mutigen Kampf des ukrainischen Volkes gegen den russischen Aggressor ausgesprochen». Beide Präsidenten hätten das Gespräch als «sehr wichtig» und «sehr gut» bezeichnet.

«Beide Präsidenten vereinbarten, in engem Kontakt zu bleiben.» Wie es aus dem Bundespräsidialamt weiter hieß, wurden der Bundespräsident persönlich und die Bundesregierung von Selenskyj zu einem Besuch in Kiew eingeladen.

Kremlbeamter zeigt neue russische Macht in Mariupol

Wenige Tage vor dem 9. Mai, dem «Tag des Sieges» über Hitler-Deutschland, demonstrierte Moskau seine neu gewonnene Macht mit einem Besuch des ranghohen Kremlbeamten Sergej Kirijenko in Mariupol. Der frühere Regierungschef organisiert für Präsident Wladimir Putin die russische Innenpolitik. Den Angaben zufolge besuchte er in Mariupol das Ilitsch-Stahlwerk und den Hafen und war auch zu Gast in Wolnowacha, einer Stadt in der Separatistenrepublik Donezk.

Die Menschen in der Volksrepublik Donezk verstünden Kirijenkos Besuch als Symbol, «dass Russland für immer hierher zurückgekehrt ist», schrieb Denis Puschilin, Chef der Donezker Separatisten. Kurz vor dem Angriff auf die Ukraine hatte Russland die 2014 abgespaltenen sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängig anerkannt. In Moskau wird spekuliert, ob Putin bei der traditionellen Parade zum Tag des Sieges die weitere Richtung im Ukraine-Krieg verkünden wird. Der Kreml dementierte aber, dass Putin eine allgemeine Mobilmachung verkünden werde.

In der Exklave Kaliningrad an der Ostsee übte die russische Armee Angriffe mit dem atomwaffenfähigen Raketensystem Iskander-M. Etwa 100 Soldaten rückten mit 20 Fahrzeugen aus, wie das Militär am Mittwoch mitteilte. Dann seien einzelne oder massenhafte Starts simuliert worden, um gegnerische Raketensysteme, Flugplätze, Bunker oder Truppen zu treffen. Iskander-M kann mit Marschflugkörpern oder Raketen bis zu 500 Kilometer weit schießen. Von Kaliningrad aus liegen damit Warschau, Berlin und andere Hauptstädte in Reichweite.

Tote und Verletzte nach Raketenbeschuss

Nach dem massiven Beschuss mehrerer ukrainischer Städte im Donbass melden die örtlichen Behörden viele Tote und Verletzte unter der Zivilbevölkerung. «Nach einem Raketeneinschlag in Kramatorsk gibt es 25 Verletzte, beschädigt wurden 9 Wohnhäuser, die Schule und Objekte der zivilen Infrastruktur», teilte der Leiter der Militärverwaltung des Gebiets Donezk, Pawlo Kyrylenko, am Donnerstag auf seinem Telegram-Kanal mit.

Nach Kyrylenkos Angaben wurden auch Tschasiw Jar, Marjinka und Awdijiwka beschossen. Dabei habe es in Tschasiw Jar mindestens einen Toten gegeben.

Der Gouverneur der ebenfalls schwer umkämpften Region Luhansk, Serhij Hajdaj, sprach von mindestens fünf Toten durch den Beschuss der Städte Sjewjerodonezk, Lyssytschansk, Hirske und Popasna. Über die Anzahl der Verletzten machte er keine Angaben. Auch hier seien Wohnhäuser und Infrastruktur schwer beschädigt worden, teilte Hajdaj mit.

Moskau meldet Angriffe auf Kirowohrad und Mykolajiw

Das russische Militär beschoss nach eigenen Angaben strategisch wichtige Ziele in ukrainischen Großstädten. «Mit Hochpräzisionsraketen wurde auf dem Militärflughafen Kanatowo nahe Kirowohrad Flugzeugtechnik und in der Stadt Mykolajiw ein riesiges Munitionsdepot vernichtet», sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, in seinem täglichen Lagebericht am Donnerstag. Darüber hinaus sei im Kreis Schowtnewe, das ebenfalls zum Gebiet Mykolajiw zählt, ein Treibstofflager für die ukrainische Armee zerstört worden.

Die taktische Luftwaffe und Heeresflieger hätten in der Nacht 93 Militärobjekte beschossen, die Artillerie insgesamt mehr als 500 Ziele. Allein durch den Artilleriebeschuss seien mehr als 600 gegnerische Soldaten und 61 Kampffahrzeuge vernichtet worden, sagte Konaschenkow.

Die Luftabwehr habe zur gleichen Zeit drei Kampfflugzeuge, eine Su-24 über der Schlangeninsel, eine Su-25 über dem Gebiet Dnipropetrowsk und eine Su-27 über dem Gebiet Cherson, abgeschossen. Darüber hinaus berichtete der russische Generalmajor über den Abschuss von 14 ukrainischen Drohnen, darunter eine Bayraktar. Von unabhängiger Seite lassen sich diese Angaben nicht überprüfen.

Raketen treffen Bahnanlagen in Dnipro

Die wiederholten russischen Raketenangriffe auf Eisenbahnanlagen haben den Zugverkehr in der Ukraine empfindlich gestört. Nach einem Überblick der Bahngesellschaft Ukrsalisnyzja vom Mittwochabend waren etwa 20 Fernzüge mit Verspätungen von bis zu zwölf Stunden unterwegs.

«Russland versucht, unsere Logistik zu ruinieren, weil sie uns im Felde nicht besiegen können», schrieb der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Andrij Jermak, auf Telegram. Er bestätigte den Angriff auf ein Objekt der Eisenbahn mitten in der Stadt Dnipro.

Nicht verifizierte Videos im Internet ließen vermuten, dass dort eine Eisenbahnbrücke über den breiten Strom Dnipro getroffen worden war. Der Zugverkehr an der Stelle sei eingestellt worden, teilten örtliche Behörden mit. Wegen der russischen Raketen herrschte auch in der Nacht zu Donnerstag in fast allen Teilen der Ukraine Luftalarm.

Trotz der Angriffe gelangten die gelieferten Waffen in die Hände der Ukraine, sagte John Kirby, Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, in Washington. Der Sender CNN berichtete, von 90 zugesagten Haubitzen aus den USA seien etwa 80 bereits in der Ukraine. Auch 90.000 von 144.000 zugesagten Geschossen Munition hätten ihr Ziel erreicht.

Kreml: Westliche Geheimdienst-Hilfe hält Moskau nicht auf

Russland zeigte sich ungeachtet der westlichen Unterstützung für die Ukraine als siegessicher. «Unserem Militär ist bekannt, dass die USA, Großbritannien und die Nato als Ganzes ständig Geheimdienstinformationen und andere Daten an die ukrainischen Streitkräfte übermitteln», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Peskow verwies zudem auf westliche Waffenlieferungen an die Ukraine.

«Das sind alles Handlungen, die nicht zum schnellen Abschluss der Operation beitragen, aber zugleich nicht in der Lage sind, das Erreichen der für die militärische Spezial-Operation gesetzten Ziele zu verhindern», sagte der Sprecher von Russlands Präsident Wladimir Putin.

Russische Grenzregion Belgorod meldet erneut Beschuss

Beim Beschuss von zwei Ortschaften in der westrussischen Region Belgorod an der Grenze zur Ukraine sind nach Behördenangaben fünf Häuser und eine Stromleitung beschädigt worden. «Von ukrainischer Seite aus stehen Schurawljowka und Nechotejewka unter Beschuss», teilte der Gouverneur der Region, Wjatscheslaw Gladkow, am Donnerstag in seinem Telegram-Kanal mit. Seinen Angaben nach gab es keine Opfer, die Attacke sei erst nach längerem Beschuss eingestellt worden. Die Behörden arbeiteten an der Wiederherstellung der Stromversorgung.

Geberkonferenz sammmelt Milliarden

Eine internationale Geberkonferenz für die Ukraine-Flüchtlingshilfe in Warschau hat Zusagen in Milliardenhöhe eingebracht. Insgesamt seien mehr als 6,5 Milliarden Dollar zusammengekommen, sagte Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki in seiner Abschlussrede. Umgerechnet sind dies mehr als 6,17 Milliarden Euro. «Der heutige Tag hat gezeigt, dass unsere Unterstützung für die Ukraine weitergeht und es keinen Egoismus unter uns gibt», so Morawiecki.

Bildquelle:

  • Ukraine-Krieg – Mariupol: dpa

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