von MARTIN D. WIND
BERLIN – Er ist Legende, bevor überhaupt auch nur ein einziges Exemplar ausgeliefert wurde: Der „Ineos Grenadier“. Sie wissen nicht, was das ist? Dann bewegen Sie sich entweder nicht im Internet, nutzen keine Videoportale, oder aber sie haben kein Interesse an Automobilien, Geländewagen sind für Sie SUVs und eh überflüssig. Das ist legitim.
Der „Grenadier“ soll genau das Gegenteil dessen sein, was Otto-Normalnutzer an den meisten „geländegängigen“ Fahrzeugen der Jetztzeit bemängeln: Es gibt kaum noch „Geländefahrzeuge“, die der Ursprungsidee des robusten, alltagstauglichen und vielseitig einsetzbaren Gebrauchsgegenstands für das unbefestigte Gelände entsprechen. Man kennt sie zwar noch – Jeep, Land Rover Defender, Toyota Landcruiser oder die Mercedes G-Klasse –, aber entweder gibt es sie nicht mehr, sie wurden und werden so domestiziert, dass sie ihren Verwendungszweck nicht richtig erfüllen können oder werden im Rahmen der „Modellpflege“ zu SUV verunstaltet.
So ist zumindest das Empfinden der letzten Mohikaner „echter“ Geländewagennutzer. Sie sind seit Jahren entsetzt über den Verrat vieler Hersteller am „Geländewagen“: Keep it simple, keep it funktional! Diese Menschen wollen ein Auto fahren, das „notfalls sie selbst oder jeder Dorfschmied“ so weit reparieren kann, dass sie an ihr Ziel gelangen,
Und dann? Dann nahm auch noch eine der Urgroßmütter der Sparte „Offroad“ ihr letztes kerniges und geländetaugliches Modell aus der Produktion: Land Rover den Defender. Der Defender war neben dem Landcruiser das Brot- und Butterauto der sogenannten „Offroad-Szene“. Die G-Klasse kostet noch heute als Gebrauchter beinahe das doppelte dessen, was für den Grenadier als Einstandspreis ausgerufen wird.
Bauern, Jäger, Marktbeschicker und Abenteurer sowie Expeditionsunternehmen waren „not amused“! Sie wurden ihrer „Ackergäule“ beraubt und bekommen jetzt nur noch Reitpferdchen oder kapriziöse SUV-Rennpferde angeboten, mit denen sich kaum jemand ins Gelände wagen sollte, sich dafür aber auf die Kö in Düsseldorf, durch Blankenese in Hamburg oder den Skikurztrip aus der Maximilianstraße in München nach Kitzbühel begibt. Der Schmerz der Puristen saß tief.
Für solche Geländewagenenthusiasten scheint Rettung nahe zu sein: Im „Grenadier“, einem Pub in London – so sagt die sagenumwaberte Legende –, standen 2016 weiße, alte, Männer – darunter ein „Reicher“! – zusammen und schwadronierten beim englischen „Bier“ über den Verlust ihrer Kindheitsträume von Freiheit, Abenteuer und vom unstillbaren Schmerz über den Verlust echter Geländeautos. Es muss herzzerreißend gewesen sein! Jim Ratcliffe, das ist dieser mehr als 20 Milliarden Euro schwere Eigner des Chemieunternehmens „Ineos“, Miteigner des Mercedes Formel 1 Rennstalls, eines Sportvereins in der Schweiz und einer Rennrad-Équipe, versprach seinen Kneipenkumpanen, er werde dafür sorgen, dass sie ihre Verlustschmerzen vergessen könnten. Er werde sich bemühen, von Land Rover die Maschinen und die Lizenz zum Weiterbau des Defender erwerben. Doch Land Rover blieb hartherzig.
Wenn Geld, Gestaltungswillen sowie Geist zusammenkommen, dann gibt es kaum Grenzen. So entstand der kühne Plan: „Wir bauen uns – mit dem Geld unseres Freundes – unseren eigenen, echten, kernigen, funktionalen Geländewagen“: Das Design? Eine Fusion aus allen positiven Aspekten des Defender, des Jeep und der G-Klasse. Die Achsen? Aus dem Hause Carraro (I) – da ging es nicht um „bequem“ und „hochsitzend“ vor der Oper vorzufahren, sondern um harten Alltagseinsatz. Der Leiterrahmen? Von Gestamp (E). Das Achtgang-Wandler-Automatikgetriebe von ZF (D) mit permanentem Allradantrieb, Geländeuntersetzung zuschaltbar, zentrale Differentialsperre. Der Motor als Diesel (249PS/550 Nm) sowie als Normalbenziner (285 PS/450 Nm) mit seinen sechs Zylindern von BMW – so ausgelegt, dass nicht große PS-Zahlen auf dem Papier erscheinen, sondern möglichst großes Drehmoment zur Verfügung steht. Die Sitze sind von Recaro und in der Stoffvariante gut zu reinigen, aber auch Leder und Teppich sind bestellbar.
Federführend bei der Zusammenführung all dieser High-End-Komponenten aus dem Offroadbereich ist die berühmte Geländefahrzeugschmiede Magna Steyer Graz (A), die schon z. B. bei der G-Klasse, den berüchtigten Hochgebirgskletterfahrzeugen Puch-Haflinger und -Pinzgauer, den VW-Synchro-Modellen, diversen vierradgetriebenen Mercedes und BMW und selbst bei Jeep maßgeblich an Entwicklung und Bau von Fahrzeugen beteiligt sind und waren. Das alles kann man erfahren, wenn man bei „Youtube“ den Begriff „Ineos Grenadier“ eingibt und sich ein wenig Zeit nimmt, sich von der Begeisterung der Offroader mitnehmen zu lassen, in deren Gedankenwelt einzutauchen.
Es ist faszinierend, wie Ineos die „Community“ an der Entwicklung des Produkts beinahe von Beginn an hat teilnehmen lassen. Die Prototypen wurden auf Tournee geschickt, um sie der potentiellen Zielgruppe vorzustellen und deren Ansprüche mit in die Produktion einfließen zu lassen. Das war keineswegs ein einfaches Unterfangen, denn der Australier haben andere Vorstellungen als der „Highlander“ aus Schottland, der Namibier andere als der Nordamerikaner. Dennoch – im Gegensatz zu arrivierten Herstellern haben die Ineos-Leute die künftige Kundschaft eng an die Entwicklung und das Endprodukt herangeführt. Das könnte den Unterschied machen, wenn es darum geht, als vollkommen neuer Produzent eine breite Käuferschicht anzusprechen, die oft eine eingeschworene Marken- und Modelltreue hatte, die aber in den vergangenen 15 Jahren von den etablierten Herstellern konsequent missachtet wurden.
Das war jetzt nur eine Grundlage dessen, was man zur Entstehungsgeschichte und zum außerordentlichen Konzept der Ineos-Mitarbeiter berichten kann. Das Fahrzeug soll ab 60.000 Euro im Internet und bei speziellen Vertragspartnern zu konfigurieren und kaufen sein. Ausgeliefert wird ab September. Produziert wird in Lothringen in der ehemaligen Smart-Fabrik in Hambach. Bestellen kann man dieses Fahrzeug über das Internetportal und mit einer Einlage beim Bestellvorgang ist man dann auch schon dabei. Aber schauen Sie sich erst mal die vielen Videos bei Youtube an und entscheiden Sie dann, ob Sie zu den Puristen gehören wollen, oder nicht!
Bildquelle:
- Geländewagen_Grenadier: thegermanz