„Stille Nacht, heilige Nacht“ – als an der Westfront kurz die Menschlichkeit aufblitzte

British and German officers pictured in No Man's Land on the Western Front during the unofficial Christmas truce of 1914 which saw both sides fraternising at various points along the line on the Western Front on Christmas day 1914. Date: December 1914 (Mary Evans Picture Library) Keine Weitergabe an Drittverwerter., Nur f¸r redaktionelle Verwendung.

von EVA DEMMERLE

Es war noch die Zeit der Gentlemen – auf beiden Seiten der kriegführenden Mächte des Ersten Weltkrieges. Noch ein letztes Mal flackerte die Zivilisation auf, als an Weihnachten 1914 an der Westfront bei Ypern an Heiligabend die Waffen schwiegen.

„An Weihnachten seid Ihr wieder zu Hause!“, hatte Kaiser Wilhelm seinen Truppen bei Kriegsausbruch Ende Juli 1914 zugerufen. Doch fünf Monate später hatten sich die Armeen tief eingegraben zu einem Stellungskrieg, der noch Jahre dauern sollte und den sich bis dahin niemand hatte vorstellen können. Der schlammige, stinkende Schützengraben voller Ratten, in dem der Soldat seinen Kameraden an einem Bauchschuss elendig krepieren sah, das war die Realität dieses Krieges. Kein Kabinettskrieg mehr, sondern ein Krieg der neuen Technologien – es gab Panzer, Flugzeuge, Maschinengewehre, U-Boote und Gas – bis dahin in dieser Grausamkeit weder bekannt noch vorstellbar. An der Südfront, in den Dolomiten, kamen die Kälte und das Eis dazu. Auch die Zivilbevölkerung wurde nicht verschont. Der Gegner sollte nicht mehr nur besiegt, sondern vernichtet werden. Nach den ersten fünf Monaten hatte der Krieg bereits eine dreiviertel Million Menschenleben gefordert.

Zur Förderung der Moral der Truppen hatte die Oberste Heeresleitung zu Weihnachten 1914 Weihnachtsbäumchen an die Front schicken lassen. Soldaten stellten diese Bäumchen mit Kerzen beleuchtet auf die Brustwehre der Schützengräben und signalisierten den Briten „We not shoot, you not shoot!“ Es kam zu Händeschütteln, gemeinsam rauchte man Zigaretten. Sogar von gemeinsamen Fussball-Kickereien wird berichtet. Fotos von den Liebsten zu Hause wurden herumgezeigt. An anderen Frontabschnitten sang man gemeinsam „Stille Nacht, Heilige Nacht“ und „Silent Night, Holy Night“. Statt Handgranaten flogen Lebkuchen und Schokoladekugeln. Deutsche und britische Offiziere trafen sich zum Weihnachtsessen. Captain Alfred Chater schrieb nach Hause: „Wir wollten schon auf sie feuern, als wir sahen, dass sie unbewaffnet waren, also ging einer von unseren Männern zu ihnen hin – und binnen zwei Minuten wuselten zwischen den Gräben Soldaten, und Offiziere beider Seiten schüttelten sich die Hände und wünschten sich fröhliche Weihnachten.“ Gemeinsam barg man die Toten aus dem Niemandsland zwischen den Stellungen und begrub sie. Ein Aufflackern der Menschlichkeit inmitten der Barbarei.

Vereinzelt kam es immer wieder zu spontanen Waffenstillständen an Heiligabend. Aber der Krieg ging weiter. Sieglüstern wurde „Menschenmaterial“ an den Fronten verheizt. Ein einziger versuchte, die Schlächterei zu beenden. Kaiser und König Karl von Österreich und Ungarn tat alles, was nur möglich war, um einen Frieden herbeizuführen, auch zusammen mit Papst Benedikt XV.. Aber auch dessen Friedensappell von 1917 verhallte ungehört – und vor allem ungewollt.

Wenn wir auch im Westen durch eine über 70-jährige Friedensperiode verwöhnt sind, dürfen wir den Krieg nicht vergessen. Deutsche Soldaten leisten heute an vielen Orten der Welt ihren Dienst für den Frieden. Zwei Flugstunden von Berlin entfernt kämpft die Ukraine um ihr Überleben gegen russische Milizen. Vor der Haustür Europas, in Syrien, tobt ein Stellvertreterkrieg, der das Christentum des Nahen Ostens vernichtet und das Potential hat, einen erneuten Weltenbrand zu entzünden. Die Großmachtpolitik ist wieder zurück, die den Krieg als legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln bezeichnet. Vergessen sind scheinbar die Leiden des Krieges.

Der Agnostiker hofft darauf, dass die Vernunft siegt. Der Christ trägt diese Hoffnung zur Krippe, zum Christkind, zum menschgewordenen Gott. Der Engel verkündete den Hirten die Geburt des göttlichen Kindes mit den Worten: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen seiner Gnade.“

 

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