von DIETRICH KANTEL*
BERLIN – In Bonn wird gejammert. Nicht, weil die Bahnschranken wieder unten sind, die die Innenstadt teilen. Auch sind es nicht die Bonner, die jammern. Jammerlappen sind die Lokalpolitiker. Lamento: Berlin sauge heimlich die Bonn verbliebenen Ministerien leer, Rutschbahn Berlin. Das sei sehr unnett und außerdem gesetzeswidrig.
Zur Erinnerung: Vor 27 Jahren, am 26.April 1994, nach dramatisch emotionalen Debattenstunden gegen 23 Uhr beschließt der Deutsche Bundestag das Bonn/Berlin-Gesetz (338:320): Parlament und Bundesregierung ziehen nach Berlin. Aber nicht ganz: Bundespräsident, Kanzleramt und acht Ministerien gehen mit erstem Dienstsitz an die Spree, sechs bleiben weiter am Rhein. Jedes Ressort hat einen zweiten Dienstsitz am jeweils anderen Ort. Zweiter Dienstsitz des Bundespräsidenten ist auch Bonn. Und: Mindestens 51 Prozent der Ministerialen müssen in Bonn bleiben. Die Wirklichkeit sieht heute anders aus: 30 Prozent der Ministerialen sind in Bonn beschäftigt, 70 Prozent in Berlin. Die Bonner pochen auf Einhaltung des Gesetzes. Formal haben sie Recht. Aber niemand hört sie noch. Selbst die im Bundestag vertretenen Bonner Abgeordneten und die vom umliegenden Rhein-Sieg-Kreis klagen, Partei egal, bestenfalls pflichtgemäß. Real betrachtet ist der Unterhalt des Spaltsitzes 32 Jahre nach Mauerfall und 27 Jahre nach Reaktivierung Berlins als Hauptstadt unsinnig. Und teuer.
Kfz-Kennzeichen BN: Berliner Nebenstelle
Die per Gesetz fixierte Aufgabenteilung hatte damals Berechtigung. Ein fairer Ausgleich: Einerseits das Gebot der Geschichte, Berlin nach Vereinigung wieder als gesamtdeutsche Hauptstadt und Regierungssitz einzusetzen. Andererseits war der westdeutschen Gemütslage und den Verdiensten der „Kleinen Stadt in Deutschland“ (John le Carré) und ihren Menschen für die 40 Jahre probate Funktion als westdeutsche Hauptstadt Respekt zu zollen. Ein Komplettumzug von Parlament und Regierung von jetzt auf gleich hätte unverhältnismäßig hohe Kosten in Berlin verursacht. In Bonn und Region wäre durch einen kompletten Ad-hoc-Abzug wirtschaftlich und finanziell eine Wüste hinterblieben. Der als schleichend beschlossene Wechsel war eine durchaus weise Lösung. Zum Übergang. Das ahnte eigentlich jeder. Schon damals, Bonn BN: Berliner Nebenstelle auf Abruf.
Schluss mit den Doppelkosten – Bonn boomt
Es ist Zeit, neu zu denken nach 27 Jahren. Berlin ist als Regierungssitz voll funktionsfähig. Für Bonner Regierungsmitarbeiter wurde ein veritabler Ausgleich erreicht. Wer wollte, blieb via Personaltausch zwischen Ministerien und Bundesbehörden in Bonn.
Zwei Regierungsstandorte bedingen Doppelstrukturen mir Doppeldauerkosten. Personelle Mehrfachbesetzung und Pendeln der Bediensteten (Vor Corona rund 20.000 Dienstreisen pro Jahr). Der Bund der Steuerzahler taxiert die Reisekosten dafür auf 20 Millionen Euro – jährlich. Dazu: Reibungsverluste, Überstunden, Frustration der Regierungspendler durch Reiseverzögerungen, Zug- und Flugverspätungen oder deren Komplettausfall. Die phantasiearmen Stadtoberen von Bonn und Umgebung sollten das Jammern lassen. Besser einen abschließenden Deal einfordern und die Erinnerung an die westdeutsche Bundeshauptstadt dorthin verlagern, wohin sie gehört: In die nationale Erinnerungskultur.
Bonn lebte stark auf seit dem weitgehenden Regierungsumzug. Früher: Überwuchert von Regierung, Parlament und Diplomatie. Alles sehr beschaulich. Aber an Wochenenden waren die alle weg. Nur unzählige alleinstehende Sekretärinnen blieben allein zu Haus. Da schaute dann gerne der Galan von der Stasi oder vom KGB herein …
Heute: Sitz von 20 UNO-Organisationen. Exzellenz-Universität mit Studenten, Lehrenden und Forschern aus aller Welt. Beethovenstadt. Unternehmenssitz von Deutsche Post – DHL und Deutsche Telekom. Allein die beschäftigen über 25.000 Menschen. Zählte Bonn 293.000 Einwohner im Jahr 1994, sind es heute 330.000; prognostiziert werden 360.000 für das Jahr 2030. Zeit für den Abschluss. Eine letzte Spritze vom Bund. Und dann ist gut.
(*) Dietrich Kantel ist Bonner – geboren 1954. Aufgewachsen in Hagen, Westfalen. Nach Abi und zwei Jahren Bund zum Studium zurück nach Bonn. Heirat 1980, Familiengründung, Wohnsitz und Beruf in Bonn. Als Lobby-Anwalt voll im Betrieb der „Bonner Republik“. Auch Mitglied im Stadtrat. Heute mit Ehefrau im Speckgürtel von Bonn lebend. Gut, dass es Bonn erspart blieb, Zentrum der vereinigten Großrepublik zu werden. Es hätte die rheinische Stadt zerrissen. Ein beruflich mal erwogener Umzug nach Berlin kam für mich und meine Frau letztlich nicht in Betracht. Die weltoffene, von 2000 Jahren Stadtgeschichte geprägte rheinische Lebensart tauschen gegen Berliner Bulettenmentalität? Nein. Jedoch: Berlin ist die richtige Hauptstadt für das Deutschland mit 83 Millionen Einwohnern, nicht Bonn.
Bildquelle:
- Bundestag_Bonn_Plenarsaal: dpa