Wenig Wirtschaftskraft, viel Korruption: Der Weg der Ukraine in die EU bleibt steinig

HANDOUT - Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj begrüßt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kiew. Foto: Dati Bendo/ - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits

von ANSGAR HAASE, MICHEL WINDE & ANDREAS STEIN

KIEW/BRÜSSEL – Die Ukraine will bis 2025 Mitglied der Europäischen Union sein. Ist große Enttäuschung programmiert? An diesem Donnerstag reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einem mit Spannung erwarteten Besuch nach Kiew.

Warum drückt die Ukraine so aufs Gaspedal?

Das Thema des EU-Beitritts ist in der Ukraine spätestens seit der prowestlichen Massenprotesten von 2014 auf der Tagesordnung. Bisher wurde das ärmste Land Europas jedoch immer unter Verweis auf fehlende Reformen und die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes auf später vertröstet. Statt von einer greifbaren Perspektive war immer von Jahrzehnten des Wartens die Rede.

Mit dem russischen Überfall sieht die Führung in Kiew jetzt eine einmalige Chance, diesen Beitrittsprozess zu beschleunigen. Als Begründung dienen die Opfer und die Leiden der Ukrainer, die aus der Sicht Kiews nicht nur die Ukraine, sondern ganz Europa gegen Russland verteidigen. Im Inland gilt der angestrebte EU-Beitritt daher gewissermaßen als verdienter Lohn für die durchgemachten Leiden.

Sind die Hoffnungen realistisch?

Öffentlich versuchen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratschef Charles Michel, sich in ihren Bekenntnissen zur Ukraine regelmäßig zu übertreffen. Die Hürden auf dem Weg in den Staatenbund werden oft nur am Rande erwähnt. Noch vor zwei Wochen ließ Michel sich bei einer Rede im ukrainischen Parlament zu der Aussage hinreißen, dass die Frage der EU-Mitgliedschaft beantwortet sei: «Wir dürfen keine Mühen scheuen, um dieses Versprechen so schnell wie möglich in die Tat umzusetzen.»

Die Realität ist jedoch komplizierter. Die EU hat die Ukraine zwar im vergangenen Juni offiziell in den Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen, nach derzeitigen Regeln dürfte sie aber wohl frühestens im nächsten Jahrzehnt Mitglied werden. Grund sind die zahlreichen Voraussetzungen, die es zu erfüllen gilt. Selbst für den Start der Beitrittsverhandlungen gibt es bislang kein grünes Licht von den EU-Staaten. Auch er ist an Voraussetzungen geknüpft.

Welche Bedingungen muss die Ukraine erfüllen?

Es geht unter anderem um das Auswahlverfahren ukrainischer Verfassungsrichter und eine stärkere Korruptionsbekämpfung – insbesondere auf hoher Ebene. Auch fordert die EU-Kommission, dass Standards im Kampf gegen Geldwäsche eingehalten werden und ein Gesetz gegen den übermäßigen Einfluss von Oligarchen umgesetzt wird.

Im Entwurf für die Erklärung des EU-Ukraine-Gipfels an diesem Freitag heißt es, dass eine «vollständige und konsequente Umsetzung der Justizreformen» in Einklang mit den Empfehlungen von Experten entscheidend für Fortschritte im Beitrittsprozess sei.

Kann die Ukraine das in absehbarer Zeit erfüllen?

Das ist äußerst unwahrscheinlich. Der Europäische Rechnungshof stellte dem Land im September 2021 ein verheerendes Zeugnis aus. «Obwohl die Ukraine Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält, untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes», hieß es damals.

Wie groß der Aufholbedarf für die Ukraine in wirtschaftlicher Hinsicht ist, zeigt das Bruttoinlandsprodukt des Landes pro Kopf. Dies lag 2021 nach Daten der Weltbank bei rund 4830 US-Dollar (4391 Euro). Für das ärmste EU-Land Rumänien lag der Wert demnach bei rund 14.850 Dollar (13 499 Euro).

Sind für die Ukrainer schon Reformfortschritte spürbar?

Der Großteil der von der EU-Kommission geforderten Reformen hat mit dem Alltagsleben der Ukrainer nur wenig zu tun. Kurz vor dem EU-Gipfel zeigten die Korruptionsbekämpfungsbehörden eine auffällige Aktivität. Beinahe täglich werden Hausdurchsuchungen und Funde von Wertsachen und Bargeld im Wert von Zehntausenden Euro bei Staatsbediensteten gemeldet.

Die größten und für die Ukrainer greifbaren Reformerfolge werden allerdings bei der Digitalisierung der Verwaltung erzielt. Digitale Ausweise, Führerscheine, Geburtsurkunden und vereinfachte Verwaltungsvorgänge sind für Ukrainer bereits Alltag. Verwundert registrierten ukrainische Flüchtlinge vor allem in Deutschland wie rückständig und kompliziert die Behörden in der EU teilweise noch arbeiten.

Welche Rolle spielt Russlands Krieg?

Vermutlich eine zweischneidige. Auf der einen Seite hätte die Ukraine ohne den Krieg wohl niemals so schnell den Kandidatenstatus bekommen. Auf der anderen Seite dürfte der Krieg die Bemühungen erschweren, die Auflagen für den Beginn der Beitrittsverhandlungen zu erfüllen. Zudem gilt es als sehr unwahrscheinlich, dass die Ukraine vor Kriegsende EU-Mitglied wird. Denn dann könnte Kiew nach Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrags militärischen Beistand von anderen EU-Staaten einfordern – die EU wäre offiziell Kriegspartei.

Hat sich von der Leyen in Kiew zum EU-Beitrittsprozess geäußert?

Die frühere deutsche Verteidigungsministerin lobte bei einer Pressekonferenz «beeindruckende Fortschritte» der Ukraine bei der Erfüllung der sieben Voraussetzungen für den Start der Beitrittsgespräche. Zugleich ließ sie aber auch anklingen, dass weitere Anstrengungen nötig seien. «Ich empfehle, dass Sie auf politischer Ebene schnell sicherstellen, dass der Kampf gegen Korruption greifbare Ergebnisse bringt und weiter intensiviert wird», sagte sie an der Seite des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Wie geht es jetzt weiter?

Die EU-Kommission will nach dem Sommer einen ausführlichen Bericht zu den Reformfortschritten der Ukraine vorlegen. Auf Grundlage dessen müssen die EU-Staaten entscheiden, ob Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden können. Ursula von der Leyen machte in Kiew deutlich, dass die Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen Russland davon unabhängig ist.

Konkret versprach sie unter anderem mehr als 150 Millionen Euro für den Einkauf von wichtiger Energietechnik und weitere 2400 Stromgeneratoren. Außerdem wird die europäische Ausbildungsmission für ukrainische Streitkräfte deutlich ausgeweitet. Statt 15.000 sollen nun 30.000 ukrainische Soldaten in EU-Ländern trainiert werden.

Bildquelle:

  • Kiew: dpa

Unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende

Jetzt spenden (per PayPal)

Jetzt abonnieren